Der letzte Beweis
Wahrscheinlich alles, was er je mir gegenüber empfunden hat, war darin enthalten. Dann wandte er sich ab und streckte die Hände auf den Rücken.
Ich sitze an meinem Schreibtisch und tue die nächsten vierzig Minuten absolut nichts, außer darauf zu warten, dass das Telefon erneut klingelt. Als es das tut, haben die Sterns schon einen Plan. Rusty wird um drei Uhr morgens aus der staatlichen Arbeitsfarm in Morrisroe entlassen werden. Der Zeitpunkt ist Sandys Idee. Er ist nicht sicher, ob Rustys bevorstehende Entlassung durchsickern wird, aber er geht davon aus, dass heutzutage keine Nachrichtenagentur so ohne Weiteres in der Lage ist, mitten in der Nacht Reporter und Fotografen loszuschicken.
»Kannst du mitkommen?«, fragt Nat mich.
»Ist das nicht eher ein Moment nur für dich und deinen Dad?«
»Nein«, sagt er. »Marta und Sandy werden auch da sein. Wir sind der letzte Rest Familie, den mein Dad noch hat. Komm doch mit.«
Der Abend zieht sich in die Länge, ehe wir aufbrechen. Der niedergeschlagene, spürbar in sich gekehrte Mann, mit dem ich seit nun fast einem Jahr zusammenlebe, ist zumindest für eine Weile verschwunden. Nat kann nicht still sitzen. Er tigert durch die Wohnung, sieht im Internet nach, ob er irgendwas Neues über seinen Vater findet, und schaltet den Fernseher ein, um auf allen Nachrichtensendern die Kriechtitel zu lesen. Offenbar sind etliche Reporter nach Ware gefahren, um Richter Yee zu filmen, als er heute um 17.30 Uhr seine Amtsräume verließ. Er sagte nichts, lächelte aber und winkte in die Kameras, wie immer amüsiert über die erstaunlichen Wendungen, die das Leben und somit auch die Rechtsprechung nehmen kann. Die Reporter verwendeten alle das Wort »verblüffend«, um die Ereignisse des Tages zu beschreiben. Stern hat eine Pressemitteilung herausgegeben, die die Reporter wortwörtlich vorlasen und in der er die Integrität des Oberstaatsanwalts lobt und erklärt, er erwarte, dass sein Mandant morgen auf freien Fuß gesetzt wird.
Abends um neun schlage ich Nat vor, gemeinsam ein paar Lebensmittel für seinen Vater einzukaufen. Die Ablenkung tut gut, und Nat macht es Spaß, all die Sachen auszusuchen, von denen er weiß, dass sein Vater sie mag. Zurück in der Wohnung, beschließen wir, ins Bett zu gehen - und wenn auch nur, um ein Nickerchen zu machen -, und am Ende müssen wir uns sogar beeilen, damit wir rechtzeitig um ein Uhr am Haus der Familie Sabich in Nearing sind, wo wir uns mit den Sterns verabredet haben, um uns zu vergewissern, dass da nicht schon Reporter auf der Lauer liegen. Wenn an der Strafanstalt alles gut läuft, müsste Rusty gegen vier Uhr morgens wieder hier sein.
Er wird sofort weiterfahren, ehe die Pressemeute das Haus belagert, und sich eine Weile im Cottage der Familie in Skageon verkriechen. Es mutet seltsam an, wenn ein Mann, der frisch aus der Einzelhaft entlassen wird, gleich wieder die Einsamkeit sucht, aber laut Stern hat Rusty erklärt, dass es für ihn schon einen Riesenunterschied macht, in die Stadt fahren zu können, um eine Zeitung zu kaufen oder mal ins Kino zu gehen.
Die Sterns treffen wenige Minuten nach uns in Martas Lincoln Navigator ein. Marta und Nat umarmen sich lange in der Einfahrt. Dann lässt er sie los, geht zur Beifahrerseite und beugt sich durchs Fenster, um Stern zu umarmen, ein wenig kürzer. Ich habe beide Sterns vor ein paar Monaten kennengelernt, als sie sich auf den Prozess vorbereiteten, aber Nat stellt mich trotzdem noch einmal vor. Ich schüttele Sandy die Hand. Im Schein des Deckenlichts sieht er viel rüstiger aus als am letzten Tag im Gericht. Der erschreckende Ausschlag, der einen großen Teil seines Gesichts befallen hatte, ist nur noch eine schwache Verfärbung, und er sieht längst nicht mehr so ausgezehrt und hinfällig aus. Nat ist nicht klar, ob diese Erholung nur eine kurze Atempause oder gar von Dauer ist, und vielleicht weiß Sandy es selbst nicht einmal. Immerhin lässt er die hoffentlich positiv zu deutende Bemerkung fallen, dass er etwas gegen »dieses verfluchte Knie« machen lassen will, sobald er sich in der Lage fühlt, wieder einen Krankenhausaufenthalt zu verkraften.
Nat bombardiert Sandy unterwegs mit Fragen zu Rustys Zukunft. Wird er seine Pension bekommen? Kann er auf die Richterbank zurückkehren? Nat scheint als Einzigem nicht klar zu sein, was für alle anderen im Auto auf der Hand liegt, dass nämlich Rusty nach seiner Freilassung aufgrund einer reinen verfahrenstechnischen Formsache
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