Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der letzte Beweis

Der letzte Beweis

Titel: Der letzte Beweis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Scott Turow
Vom Netzwerk:
richtige Alternative. Aber das heißt nicht, dass es nie eine gab. Vor zwanzig Jahren glaubte ich, von vielen schlechten Möglichkeiten die beste zu wählen, und damit lag ich falsch. Falsch. Ich hätte etwas anderes tun können, jemand anderes finden. Schlimmer noch. Ich hätte es tun sollen. Ich hätte nicht zu Barbara zurückkehren sollen. Ich hätte nicht mein eigenes Glück für Nats Glück eintauschen sollen. Es war für uns alle drei die falsche Entscheidung. Nat wuchs danach in einem Kerker stummen Leidens auf. Und Barbara wurde täglich mit der Erinnerung an etwas konfrontiert, das jeder mit einem etwas gesünderen Menschenverstand lieber vergessen würde. In diesem Augenblick ist mein Herz wie ein überladenes Kriegsschiff, das von einer leichten Brise zum Kentern gebracht wird und in den Gewässern versinkt, die es befahren sollte. Und der einzige Mensch, dem ich daran die Schuld geben kann, bin ich selbst.
     
    Als ich in mein Amtszimmer zurückkehre, liegt eine dringende Nachricht von George Mason auf meinem Schreibtisch. Genauer gesagt, drei. Das Leben am Berufungsgericht verläuft normalerweise in Zeitlupe. Selbst sogenannte Dringlichkeitsanträge können ein oder zwei Tage liegen bleiben und müssen nicht sofort entschieden werden. Als ich aufschaue, steht George in der Tür. Er ist persönlich heruntergekommen, weil er hoffte, dass ich inzwischen zurück bin. Er ist in Hemdsärmeln und streicht über seine gestreifte Krawatte, um sich selbst zu beruhigen. »Was ist?«, frage ich.
    Er schließt die Tür hinter sich. »Wir haben am Montag die Urteilsbegründung für Harnason rausgegeben.«
    »Das hab ich gesehen.«
    »Heute hab ich in der Mittagspause zufällig Grin Brieson getroffen. Sie hatte Mel Tooley angerufen, um Harnasons Haftantritt zu regeln, und daraufhin nichts von ihm gehört. Schließlich, nach dem dritten Anruf hat Mel zugegeben, dass er meint, der Mann ist verschwunden. Heute Morgen ist die Polizei zu ihm. Harnason ist seit mindestens zwei Wochen weg.«
    »Er ist abgehauen?«, frage ich. »Geflohen?«
    Harnason ist in ein Spielkasino gegangen und hat eine Kreditkarte mit hohem Verfügungsrahmen benutzt, um Chips im Wert von fünfundzwanzigtausend Dollar zu kaufen, die er prompt eintauschte, um seine Flucht zu finanzieren. Mit zwei Wochen Vorsprung ist er mittlerweile wahrscheinlich schon längst außer Landes.
    »Die Presse weiß noch nichts davon«, erklärt George mir. »Aber das wird nicht mehr lange dauern. Ich wollte, dass du Bescheid weißt, wenn die ersten Reporter anrufen. Koll wird dich anprangern.« Die Öffentlichkeit begreift nicht, was Richter am Obersten Bundesstaatsgericht tun. Aber sie wird begreifen, dass ich einem verurteilten Mörder Kaution gewährt habe, der nun für immer auf freiem Fuß bleiben wird, noch ein Buhmann mehr, den sie fürchten kann. Koll wird mir Harnasons Namen um die Ohren hauen. Ich frage mich vage, ob ich dem Blödmann damit tatsächlich eine Chance verschafft hab.
    Aber das ist nicht der Grund, warum ich wie paralysiert hinter meinem Schreibtisch sitze, nachdem George wieder gegangen ist. Während der ganzen sieben Wochen, die ich mich nun mit Anna treffe, wusste ich, dass die Katastrophe naht. Aber ich habe nicht gesehen, in welcher Form. Ich bin bereitwillig das Risiko eingegangen, die Menschen zu verletzen, die mir am nächsten stehen. Aber so absurd es auch sein mag, was mich wirklich umhaut, ist die Erkenntnis, dass ich bei einer schwerwiegenden Gesetzesübertretung Hilfestellung geleistet habe. Harnason hat mich raffiniert ausgetrickst. Die Wahl ist jetzt meine geringste Sorge. Mit dem falschen Anklagevertreter - und Tommy Molto ist zweifellos der falsche - könnte ich im Gefängnis landen.
    Ich brauche einen Anwalt. Ich bin zu durcheinander und zu sehr mit Selbstvorwürfen beschäftigt, als dass ich selbst eine Lösung finden könnte. Es kommt nur einer infrage: Sandy Stern, der mich auch vor einundzwanzig Jahren vertreten hat.
    »Oh, Euer Ehren«, sagt Sandys Assistentin Vondra. »Er ist nicht im Büro, war die letzte Zeit nicht ganz auf der Höhe, aber er würde bestimmt gern mit Ihnen sprechen. Ich schau mal, ob er Ihren Anruf entgegennimmt.«
    Es dauert einige Minuten, bis ich ihn an der Strippe habe.
    »Rusty.« Seine Stimme ist brüchig und alarmierend schwach. Als ich ihn frage, was los ist, sagt er: »Schlimme Kehlkopfentzündung«, und bringt das Gespräch wieder auf mich. Ich verzichte auf irgendwelche Nettigkeiten.
    »Sandy, ich

Weitere Kostenlose Bücher