Der letzte Beweis
nach gondeln wir alle mehr oder weniger so vor uns hin, wie Autofahrer auf einem Highway. Jeder hat seine eigene Geschwindigkeit und sein eigenes Ziel, hört vielleicht Musik oder irgendeine Radiosendung, oder er telefoniert und versucht ansonsten, möglichst niemandem in die Quere zu kommen. Und hin und wieder bist du so weit, dass du Lust hast, anzuhalten und jemanden einsteigen zu lassen. Und wer kann sagen, warum?
Ich weiß immer noch nicht, wann ich mich dermaßen in Anna verknallt habe. Ich fand sie gleich bei unserer ersten Begegnung toll, als sie bei meinem Dad angefangen hatte, aber damals war ich mit Kat zusammen, und nachdem wir uns getrennt hatten, verpasste meine Mutter dem Ganzen einen ordentlichen Dämpfer, indem sie wiederholt fragte, ob Anna denn wirklich zu alt für mich wäre. Und dann eines Tages im Sommer sah ich Annas Namen auf dieser Sammelmail wegen ihrer Wohnung, und ich dachte: Ja doch, schau's dir mal an. Und als wir dann draußen auf ihrem Balkon saßen, war ich völlig hingerissen von ihr, weil sie so toll war, intelligent und schön und witzig und ganz auf meiner Wellenlänge. Was zunächst keinesfalls auf Gegenseitigkeit beruhte. Ich legte mich mächtig ins Zeug. Und sie sagte Nein. Lieb und freundlich und alles. Aber Nein.
Das ist jetzt einen Monat her, ich bin bei der Arbeit und immer noch am Boden zerstört wegen Anna. Nicht mehr ganz so am Boden zerstört, weil ich einfach nicht so weit unten bleiben konnte, wie ich es die ersten zwei Wochen war. Wenn es mir schlecht geht, hab ich so eine Art, die es mir unmöglich macht, einfach auf Neustart zu drücken. Ich stürze ab und bleibe unten. Ich spule zurück. Und spiel alles von vorn ab. Und weine. Völlig unmännlich. Ich bin viermal am Tag von meinem Schreibtisch im Gericht aufgestanden und hab mich in einer Kabine auf dem Klo eingeschlossen und geheult. Dann fing ich an, mir Limits zu setzen. Einmal vormittags weinen und einmal nachmittags. Dann nur einmal während der Arbeitszeit und einmal zu Hause. Irgendwie war es schlimmer als meine Trennungen von Paloma und Kat. Und ich wusste, dass ich das Ganze nur deshalb im Kopf zur »perfekten Beziehung« aufbaute, weil sie nie real geworden ist. Sie ist ein platonisches Ideal. Ich bin bis über beide Ohren verliebt, aber eher in die Idee der Liebe als in irgendwas anderes. Aber vielleicht ist das ja sogar noch schlimmer. Real oder nicht. Hoffnung ist etwas Erstaunliches. Hoffnung ist vielleicht das Wesentlichste im Leben. Hoffnung hält einen aufrecht. Und ohne sie bist du erledigt.
In dieser Verfassung befinde ich mich auch jetzt, als ich in die Anhörung am Obersten Bundesstaatsgericht gehe, um eine Akte abzugeben, die Max Handley, der den Fall als Referendar betreut, vergessen hat mitzunehmen. Und da ist sie. Seit einem Monat bilde ich mir mehrmals täglich ein, sie auf der Straße zu sehen, aber nur eine Sekunde lang, ehe ich merke, nein, schade, nein. Aber diesmal weiß ich, es ist Anna, obwohl ich sie nur von hinten sehe, obwohl sie eine andere Frisur hat, obwohl ich keinen Blick auf ihr Gesicht werfen kann, ich weiß es einfach. Sie sitzt am Tisch des Antragstellers und macht sich hektisch Notizen, während einer der älteren Partner ihrer Kanzlei eine Antragsbegründung vorträgt, die offensichtlich alle Richter kaltlässt. Der Mann wird sich eine Abfuhr holen, vielleicht sogar noch ehe er den Saal verlässt. Und als ich sie sehe, bleibe ich so abrupt stehen, dass die Hälfte der Richter auf der Bank, die alle nach irgendeiner Ablenkung lechzen, zu mir rüberstarrt. Es ist so verdammt peinlich!
Also schleiche ich zu Richter Guinari und gebe ihm die Akte. Ich nehme mir vor, wieder rauszugehen, ohne dieselbe blöde Nummer abzuziehen. Augen nach vorne, Schultern gerade. Aber natürlich bin ich zu angeschlagen und ausgehungert, um nicht doch rüberzuschielen. Und dann, als ich hinschaue, sehe ich, danke Gott - ich sehe, danke Gott, es gibt einen Gott, das hab ich schon immer gewusst —, dass sie mich gesehen hat. Der Partner redet ungerührt weiter. Aber Anna hat aufgehört, sich Notizen zu machen. Sie tut gar nichts mehr, beobachtet mich bloß. Sie blinzelt nicht mal. Sie kann nicht wegsehen. Und ich sehe alles - es liegt in ihrem Blick. Sie hat genauso gelitten wie ich. Und sie gibt auf. Was auch immer sie dazu gebracht hat, Nein zu sagen, jetzt kann sie es nicht mehr. Sie gibt auf. Sie gibt nach. Gibt der Liebe nach. Es ist wie im Film! Wie in Filmen aus den Vierzigerjahren!
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