Der letzte Beweis
ich glaube.«
In diesem Augenblick wusste ich, dass trotz des Zögerns und des Widerwillens, trotz der Warnungen und des furchtbaren Risikos, trotz der Beschwörungen an mich selbst: »Nein, es ist Wahnsinn«, dass mein Herz trotz alldem etwas anderes wollte und ich nicht anders konnte, als ihm zu folgen. Wie heißt es noch mal in dem Song:
I
would give everything for love. Das ist eine größere, tiefere Wahrheit über mich als all die Ermahnungen und Lehren, die ich unbedingt verinnerlichen wollte. Und im Grunde hab ich das auch immer gewusst.
Während der letzten Monate, die ich bei Dede wohnte, ging ich mit einem Cop namens Lance Corley, den ich in einem Abendseminar über Wirtschaftswissenschaften kennengelernt hatte. Er war ein lieber Kerl, groß und gut aussehend, und wenn er mich besuchte, beschäftigte er sich viel mit Jessie. Er hatte eine Tochter, die er nicht oft zu sehen bekam. Fast von Anfang an merkte ich, dass Dede in ihn verschossen war, und mit der Zeit wurde es immer schlimmer. Sie war so durchschaubar. Zum Beispiel fragte sie mich mehrmals am Tag, wann er denn wohl kommen würde. Letzten Endes beschloss Lance, dass er versuchen würde, sich wieder mit seiner Ex zu versöhnen, vor allem weil ihm durch Jessie klar geworden war, wie sehr ihm seine Tochter fehlte.
Als ich das alles Dede erklärte, war sie sicher, dass ich sie anlog und Lance nur deshalb nicht mehr in die Wohnung kommen ließ, weil ich nicht wollte, dass er sich in sie verkuckte. Es wurde so schlimm, dass ich Lance schließlich bat, Dede anzurufen und ihr die Situation zu erklären, aber das war ein Fehler. Sie fühlte sich zutiefst gedemütigt, weil Lance von ihrer spinnerten Verknalltheit wusste, und das machte sie wütend.
An dem letzten Morgen, den ich dort wohnte, wachte ich gegen sechs Uhr früh auf und sah Dede neben meinem Bett stehen. Sie hielt eine Küchenschere in der Hand und hatte sie auf mich gerichtet. Ich konnte sehen, dass sie sturzbetrunken war. Sie zitterte, als hätte sie einen Motor in der Brust, ihr Gesicht war fleckig, und ihr lief die Nase, während sie weinend dort stand und mit der Idee spielte, mich zu töten. Ich sprang auf und schrie sie an. Ich ohrfeigte sie und beschimpfte sie und nahm ihr die Schere weg. Sie sank in einer Ecke meines Zimmers zu einem Häufchen Elend zusammen, sodass jeder, der zufällig hereingekommen wäre, sie auf den ersten Blick für einen Berg schmutzige Wäsche hätte halten können.
Jetzt hörte ich mir Nats Nachricht sechs- oder siebenmal an, und dann griff ich zum Telefon, um Rusty anzurufen. Ich sagte, ich müsste mit ihm reden, obwohl ich beim besten Willen nicht wusste, was ich ihm sagen würde. Aber im Leben passieren andauernd verrückte Dinge, wenn Menschen sich verlieben. Ich habe eine Freundin, die sich scheiden ließ und dann den Bruder ihres Exmannes heiratete. Ich hab von einem Anwalt in Manhattan gehört, einem leitenden Partner in einer großen Kanzlei, der sich mit fünfzig in einen der Büroboten verliebte und eine Geschlechtsumwandlung machte, damit der junge Mann ihn wollte, was tatsächlich auch eine Zeitlang funktionierte. In der Liebe ist nichts unmöglich. Sie hat ihre eigene Quantenmechanik, ihre eigenen Regeln. Wenn es um Liebe geht, ist für Anstand oder auch Weisheit manchmal nur noch begrenzt Raum. Wenn du jemanden stark genug liebst, musst du dir eingestehen, dass du nun mal so bist, und versuchen, diesen Menschen zu bekommen.
An jenem Tag in Dedes Wohnung weinte sie, während ich meine Sachen packte, und beteuerte: »Ich hätt's nicht getan, ich hätt's nicht getan. Ich hab nur so getan, als ob, aber ich hätt's nicht getan.«
Sie sagte das wieder und wieder, und schließlich hatte ich endgültig die Nase voll. Ich zog den Reißverschluss an meiner letzten Tasche zu und hängte sie mir über die Schulter. »Und genau das ist dein Fehler«, erklärte ich.
Das waren die letzten Worte, die ich je zu ihr sagte.
Rustys Geburtstag 19.03.2007 - Barbaras Tod 29.09.2008 - Die Wahl 04.11.2008
Kapitel 16
Rusty, 2. September 2008
Anna ist schon da, als ich in der Bar des Dulcimer eintreffe. Sie ist nervös, aber schön und befingert ein hohes perlendes Glas. Die Arbeit in einer privaten Anwaltskanzlei hat ihr ein eleganteres Aussehen verliehen, eine bessere Frisur und schickere Kleidung. Ich setze mich neben sie auf eine gesteppte Bank.
»Neuer Haarschnitt?«
»Ist praktischer. So hab ich noch mehr Zeit für die Arbeit.« Sie lacht.
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