Der letzte Beweis
langer Zeit noch waren. Doch nachdem ich eine Stunde darüber nachgedacht habe, wird mir klar, dass er wahrscheinlich gar nicht weiß, dass diese Nachrichten bei mir ankommen. Wenn man eine E-Mail öffnet, deren Absender um eine Empfangsbestätigung bittet, öffnet sich ein kleines Fenster und weist darauf hin, dass eine entsprechende Mitteilung verschickt wird. In dem Fenster kann man auch ein kleines Kästchen anklicken mit dem Text: »Diese Nachrieht nicht mehr anzeigen.« Wahrscheinlich hatte er sich vor langer Zeit für diese Option entschieden. Gegen Abend befinde ich, dass es möglicherweise eine positive Erklärung dafür gibt: Rusty tut endlich das, was er schon vor sechzehn Monaten hätte tun sollen, und löscht alle meine Mails. Es ist ein Zeichen dafür, dass er die Vergangenheit begräbt, dass er Nat und mich akzeptiert.
Am nächsten Morgen um zehn Uhr sind schon wieder drei Mails eingetroffen. Zu meinem Entsetzen wird mir klar, dass die Empfangsbestätigungen nicht verschickt würden, wenn er die Mails einfach nur löschen würde. Sie sollen ja schließlich belegen, dass die Mails gelesen wurden. Es ist eine verstörende, ja unerträgliche Vorstellung, wie Rusty in seinem Amtszimmer sitzt und all diese Details noch einmal durchlebt. Und so entschließe ich mich wohl oder übel, ihn zur Rede zu stellen, greife prompt zum Telefon und wähle seine Durchwahl. Es klingelt, doch statt Rusty meldet sich seine Assistentin Pat.
»Anna!«, ruft sie, als sie meinen Namen hört. »Wie geht's dir denn? Man sieht dich ja überhaupt nicht mehr.«
Nachdem wir ein paar Nettigkeiten ausgetauscht haben, sage ich ihr, dass ich in einem unserer Fälle eine Frage an den Richter habe, und bitte sie, mich mit ihm zu verbinden.
»Ach, tut mir leid, der ist den ganzen Morgen im Gerichtssaal. Schon seit über einer Stunde. Die haben heute eine Anhörung nach der anderen. Wahrscheinlich kommt er erst nach halb eins wieder.«
Ich habe die Geistesgegenwart, Pat zu sagen, dass ich dann eben meinen Referendarskollegen Wilton anrufen werde, aber als ich auflege, bin ich zu panisch und zu durcheinander, um auch nur die Hand vom Hörer zu nehmen. Ich sage mir, dass ich mich irre, dass es eine andere Erklärung geben muss. Ich gehe noch einmal auf meinem Bildschirm die Empfangsbestätigungen durch, aber alle drei wurden vor weniger als einer halben Stunde von Rustys Adresse versandt, als er, wie Pat sagt, im Gerichtssaal war und keinen Zugang zu seinem Computer hatte.
Und dann kommt sie, die schreckliche Erkenntnis. Die Katastrophe, die immer im Anzug war, ist eingetreten. Es ist jemand anderes. Irgendwer geht systematisch die gespeicherten Beweise für meine Treffen mit Rusty durch. Die Hotels. Die Daten. Eine atemlose Sekunde lang fürchte ich das Schlimmste und denke, es ist Nat. Aber er war gestern Abend wie immer, zärtlich und unglaublich liebevoll, und er ist zu offenherzig, um so eine Entdeckung zu überspielen. Bei seinem Charakter wäre er jetzt einfach weg.
Aber meine Erleichterung ist kurzlebig. Dann erkenne ich die Wahrheit mit einer absoluten Gewissheit, die mein Herz zu Stein werden lässt. Es gibt nur eine Person, die die Möglichkeit hat, Rustys E-Mail-Konto einzusehen, und die Zeit hat, diese mühselige Kontrolle durchzuführen.
Sie weiß es.
Barbara weiß es.
Rustys Geburtstag 19.03.2007 - Barbaras Tod 29.09.2008 - Die Wahl 04.11.2008
Kapitel 20
Tommy, 31. Oktober 2008
Nach ihrem Treffen mit Dickerman im Präsidium sprachen Tommy und Brand kein Wort miteinander, bis sie wieder im Mercedes saßen.
»Wir müssen an seinen Computer zu Hause«, sagte Brand dann. »Das ist die einzige echte Chance, diese Kleine zu finden. Ich möchte heute einen Durchsuchungsbeschluss ausstellen. Und wir müssen sofort den Sohn vernehmen und ihn fragen, was zwischen seiner Mom und seinem Dad los war.«
»Das gibt Schlagzeilen, Jimmy. Er wird die Wahl verlieren.«
»Na und? Wir tun nur unsere Arbeit«, sagte Brand.
»Nein, verdammt noch mal«, sagte Tommy. Er verstummte und rang um Beherrschung. Brand hatte ausgezeichnete Arbeit geleistet; er hatte richtiggelegen und Tommy falsch. Es gab keinen Grund, wütend auf ihn zu werden, weil er vorpreschen wollte. »Ich weiß, du denkst, das ist ein perfider, pathologischer, perverser Kerl, ein Serienkiller, der da auf seinem Thron zur Rechten Gottes sitzt, und ich versteh dich, aber denk nach. Denk nach. Wenn du Rusty den Sitz im Obersten Gericht versaust, spielst du der
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