Der Letzte Bus Nach Woodstock
gesetzt. Danach habe ich mich auf den Heimweg gemacht.«
Morse sah sie ungeduldig an. »Da dürfte es dann schon dunkel gewesen sein.«
»Ja. Es war so gegen halb acht.«
»Na schön. Weiter.«
»Was meinen Sie mit weiter ? Das war alles.«
»Sie wollen mir doch nicht etwa weismachen …« Wütend brach er ab und raunzte statt dessen die Wachtmeisterin an: »Holen Sie Lewis. Und zwar sofort.« Sie sah, daß die Zeichen auf Sturm standen und machte, daß sie aus dem Zimmer kam.
Jennifer unternahm keinen Versuch, sich zu verteidigen, und Morses Zorn verrauchte allmählich. Es war Jennifer, die das Gespräch wieder in Gang brachte. »Bitte seien Sie nicht zu ärgerlich mit mir.« Ihre Stimme war kaum mehr als ein Flüstern. Sie fuhr sich wie erschöpft mit der Hand über die Stirn und schloß die Augen. Morse hatte Gelegenheit, sie ungestört zu betrachten. Erst jetzt fiel ihm auf, wie reizvoll sie aussah. Sie trug einen hellblauen Sommermantel, darunter einen schwarzen Pullover und einen Rock in Schottenmuster. Ihr Gesicht, das von den hohen Backenknochen geprägt wurde, vermittelte trotz der geschlossenen Augen einen Eindruck von Lebendigkeit. Morse stellte sich wieder einmal die Frage, ob dies ein Mädchen sei, in das er sich verlieben könnte. Die Antwort fiel wie fast immer positiv aus.
»Ich bin in letzter Zeit irgendwie durcheinander und habe oft solche Angst.«
Morse mußte sich nach vorn beugen, um ihre Worte zu verstehen.
Lewis kam herein, und er bedeutete ihm durch eine Handbewegung, sich im Hintergrund zu halten.
»Glauben Sie mir, es wird alles wieder gut.« Morse sah aus den Augenwinkeln, daß Lewis Kugelschreiber und Papier bereitlegte, um ein neues Protokoll aufzunehmen, und nickte ihm unmerklich zu.
»Erzählen Sie mir doch, was Ihnen angst macht«, sagte er sanft.
»Ach, es ist alles so eigenartig … Ich habe das Gefühl, als bewegte ich mich in einer Art Traum … Manchmal kann ich kaum noch unterscheiden, was wirklich ist und was nicht. Es passieren lauter merkwürdige Dinge.« Sie hatte den Kopf in die Hand gestützt und starrte blicklos vor sich auf den Tisch. Morse und Lewis sahen sich an. War dies der Augenblick, auf den sie gewartet hatten?
»Was meinen Sie mit merkwürdige Dinge ?«
»Irgendwie alles. Ich frage mich seit einiger Zeit, ob ich überhaupt noch weiß, was ich tue. Der Brief, der gestern für mich dabei war …«
Morse hielt den Atem an.
»Sie werden ihn ja in der Hand gehabt haben. Diese Absage auf eine Stellenbewerbung. Nur – ich kann mich übe r haupt nicht daran erinnern, mich beworben zu haben. Glauben Sie, daß ich allmählich verrückt werde?«
Das hatte sie sich ja verdammt gut ausgedacht! Morse fühlte sich wie ein Bridgespieler, der hilflos zusehen muß, wie sein As unter einer miesen Trumpf-Zwei verschwindet. Obwohl sie wußten, daß Jennifer sie beobachtete, konnte Morse und Lewis es sich nicht versagen, einen beredten Blick zu wechseln.
»Ich meine«, sagte Morse und mußte sich bemühen, seinen Ärger nicht allzusehr durchklingen zu lassen, »wir sollten dann jetzt auf den Mittwochabend zurückkommen. Bitte wiederholen Sie noch einmal, was Sie eben ausgesagt haben. Sergeant Lewis wird mitschreiben. Alles wie gehabt.« Er wollte die Sache möglichst schnell hinter sich bringen.
Jennifer begann noch einmal zu schildern, was sie Mittwoch abend gemacht hatte. Nach den ersten Sätzen runzelte Morse plötzlich die Stirn, als sei ihm etwas unklar. Lewis sah verwirrt aus.
»Soll das heißen«, fragte Morse, »daß zwar Miss Kaye bis Woodstock gefahren ist, aber Sie nur bis Begbroke?«
»Genau das versuche ich seit einer halben Stunde, Ihnen klarzumachen.«
»Sie haben also den Mann gebeten, Sie in Begbroke aussteigen zu lassen.«
»Was denn für einen Mann?«
»Den Mann, der Sylvia und Sie mitgenommen hat.«
»Aber ich bin von keinem Mann mitgenommen worden.«
»Wie bitte?« Morses Stimme überschlug sich fast.
»Ich bin überhaupt nicht mitgenommen worden. Ich habe es auch gar nicht nötig zu trampen. Sie müssen nämlich wissen, Inspector, ich habe selbst ein Auto .«
Während Lewis ging, um das neue Protokoll tippen zu lassen, zog sich Morse in sein Büro zurück. War er die ganze Zeit von einer falschen Annahme ausgegangen? Wenn das, was Jennifer eben ausgesagt hatte, tatsächlich stimmte, so würde dies eine Menge erklären. Eine Kollegin, mit der sie relativ eng zusammengearbeitet hat, wird ermordet, und sie selbst ist zur fraglichen
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