Der Letzte Bus Nach Woodstock
den sie deckt. Ich habe versucht, sie dazu zu bringen, uns von ihm zu erzählen, doch sie ist mir ausgewichen und hat mich angelogen. Aber daß ich das weiß, nützt mir gar nichts, solange ich es ihr nicht nachweisen kann. Bis dahin wird sie wohl weiter Dumme finden, die ihr Glauben schenken.«
Lewis fand, das ginge zu weit. »Vielleicht irren Sie sich ja auch«, sagte er mit leicht aggressivem Unterton.
Morse hatte genug eigene Zweifel, um sich auch noch mit Lewis’ Einwänden herumzuschlagen. »Nein, nein, nein«, wehrte er vehement ab. »Ich bin mir ganz sicher. Aber ich habe am falschen Ausgangspunkt angesetzt. Der Ausgangspunkt ist überhaupt das Wichtigste, Lewis! Sie können den Eiger in Hausschuhen besteigen, vorausgesetzt, Sie beginnen den Aufstieg an der richtigen Stelle.«
»Sie meinen also, wir hätten es uns zu schwergemacht?«
»Nein. Im Gegenteil. Wir haben an dem für uns naheliegendsten Punkt angefangen – das ist ja auch nur natürlich –, und das wäre der leichtere Weg gewesen. Nur hat er uns leider nicht sehr weit geführt, so daß uns nichts anderes übrigbleibt, als jetzt den unbequemeren zu nehmen.«
»Und darf man fragen, wie der aussieht, Sir?«
»Nun, bisher waren alle unsere Anstrengungen darauf gerichtet, Sylvias Begleiterin ausfindig zu machen, weil wir dachten, daß wir durch sie an den Fahrer des Wagens herankommen würden.«
»Aber ich hatte Sie so verstanden, als ob Sie davon ausgingen, wir hätten Sie gefunden! Ich dachte, Sie glaubten, daß Jennifer …«
»Tu ich auch. Aber der Grund, warum wir dieses Mädchen finden wollten, war doch, daß sie uns zu dem Mörder führen sollte. Und da haben wir uns verrechnet. Jennifer will uns nicht sagen, was sie weiß – und sie ist gewitzt. Jemand hat ihr befohlen, den Mund zu halten, und sie tut, wie ihr geheißen. Ich nehme allerdings an, daß sie wohl auch noch ihre eigenen Gründe haben wird, warum sie schweigt. Wie dem auch sei – im Moment rennen wir bei ihr gegen eine Wand. Es gibt also nur eine Alternative. Wenn Jennifer uns nicht hilft, den Mörder zu finden – na schön, dann suchen wir ihn eben allein.«
»Und wie?«
»Mit ein bißchen Aristoteles. Was halten Sie davon?«
»Wenn Sie meinen, Sir.«
»Morgen werden Sie Genaueres erfahren, Lewis«, verkündete Morse.
An der Tür drehte sich der Sergeant noch einmal um. »Die Aussage der Wirtin, Sir. Halten Sie die für beweiskräftig?«
»Wieso denn nicht?«
»Nun, es ging alles ein bißchen sehr schnell, wenn Sie verstehen, was ich meine, Sir. Eben nicht nach den Vorschriften.«
»Vorschriften?« fragte Morse.
Lewis wußte nicht so recht, was er davon halten sollte. Das passierte ihm heute allerdings nicht zum erstenmal, und deshalb war er froh, jetzt erst einmal nach Hause gehen zu können.
Auch Morse hatte ein wenig die Orientierung verloren, doch das beunruhigte ihn nicht weiter, da er spürte, daß in dem diffusen Gewirr widerstreitender Gedanken bereits eine neue Idee Gestalt annahm. Er hatte von Anfang an den Eindruck gehabt, daß Jennifer unaufrichtig war, und er glaubte auch jetzt noch nicht, daß ihn sein Gefühl trog. Trotzdem hatte er vielleicht einen Fehler begangen. Er hatte Jennifer der Lüge überführen wollen, aber möglicherweise war das gar nicht der springende Punkt.
Was sie sagte, stimmte vielleicht, und die Unwahrhaftigkeit konnte darin bestehen, daß sie etwas verschwieg. Er wußte es nicht und konnte es jetzt und hier auch nicht entscheiden. Er sah ein, daß er für heute Schluß machen mußte.
Kapitel 10 – Mittwoch, 6. Oktober
Die Lounge Bar des Black Prince war vormittags zwischen elf und zwölf Uhr meist noch ziemlich leer. So auch an diesem Mittwoch. Die allgemeine Aufregung wegen des Mordes hatte sich gelegt, und alles ging wieder seinen normalen Gang.
Es war eigentlich schon erstaunlich, wie schnell sich doch die Aufmerksamkeit wieder anderen Dingen zugewandt hatte, dachte Mrs. Gaye McFee, während sie ein Martiniglas blank rieb und zu den anderen stellte. Aber es passierte eben zuviel. Erst heute morgen wieder dieses Flugzeugunglück auf Heathrow. Es hieß, daß 75 Menschen ums Leben gekommen seien. Und was sich so tagtäglich auf den Straßen abspielte …
»Was darf ich Ihnen bestellen?« Der Sprecher war ein distinguiert aussehender Herr um die Sechzig, untersetzt, mit silbergrauem Haar und einer lebhaften rötlichen Gesichtsfarbe. Gaye hatte ihn schon oft bedient und wußte, daß er Professor und stellvertretender
Weitere Kostenlose Bücher