Der letzte Coyote
Erkundigungen über die Hauptbeteiligten eingezogen. Mittel muß Wind davon bekommen haben. Er kannte genug Leute an den richtigen Stellen, die ihn warnen würden.«
Bosch schwieg. Er fragte sich, ob Irving wirklich diese Erklärung glaubte. Oder wollte er Bosch signalisieren, daß er nichts unternehmen würde, obwohl er wußte, was wirklich passiert war? Ob Irving ihm die Schuld gab und ein Dienstverfahren gegen ihn einleitete oder nicht, spielte jedoch keine Rolle. Mit seinen Gewissensbissen leben zu müssen, würde das Schlimmste sein.
»O Gott«, sagte er. »Er starb an meiner Stelle.« Sein ganzer Körper begann sich zu schütteln, als hätten die Worte einen Exorzismus ausgelöst. Er warf den Eisbeutel in den Abfalleimer und schlang die Arme um seinen Leib. Aber das Schütteln hörte nicht auf. Er glaubte, es würde ihm nie wieder warm werden. Als sei der Schüttelfrost nicht etwas Vorübergehendes, sondern Teil seiner Existenz. Sein Mund wurde von einem warmen, salzigen Geschmack erfüllt. Er merkte, daß er weinte. Er wandte sein Gesicht von Irving ab und versuchte ihm zu sagen, daß er gehen solle, brachte aber nichts heraus. Sein Unterkiefer war zugepreßt. »Harry?« hörte er Irving sagen. »Harry, sind Sie okay?« Bosch gelang es zu nicken. Er verstand nicht, daß Irving nicht mitbekam, wie sein Körper geschüttelt wurde. Als er seine Hände in die Taschen steckte, um die Jacke enger zusammenzuziehen, fühlte er etwas in der linken Tasche und zog es geistesabwesend heraus.
»Hören Sie«, sagte Irving, »der Arzt sagte, daß Sie sich nicht aufregen sollen. Wenn man so einen Schlag auf den Kopf bekommt … manchmal passieren ganz eigenartige Sachen. Machen Sie sich … Harry, sind Sie sicher, daß Sie okay sind? Sie werden blau im Gesicht. Ich werde … ich hole den Arzt. Ich …«
Er brach ab, als Bosch den Gegenstand aus der Tasche zog. Er hob seine zitternde Hand. In ihr hielt er die schwarze Achter-Kugel. Sie war blutverschmiert. Als Irving sie ihm wegnahm, mußte er fast Boschs Finger aufbrechen.
»Ich hole jemanden«, sagte er nur noch.
Dann war Bosch allein im Zimmer. Er wartete, daß jemand kam, und der Dämon aus ihm herausfahren würde.
44
I nfolge der Gehirnerschütterung waren seine Pupillen ungleichmäßig weit geöffnet, und unter den Augen hatten sich Blutergüsse gebildet. Er hatte Fieber, und außerdem plagten ihn fürchterliche Kopfschmerzen. Zur Vorsorge hatte der Notarzt angeordnet, daß er im Krankenhaus unter Beobachtung bleiben sollte und daß man ihn vor vier Uhr morgens nicht einschlafen lassen sollte. Er versuchte sich die Zeit mit Talk-Shows zu vertreiben, aber das schien die Schmerzen nur noch schlimmer zu machen. Schließlich starrte er die Wand an, bis endlich jemand hereinkam, nach ihm sah und ihm mitteilte, er könne jetzt schlafen. Danach kamen ständig Schwestern vorbei, die ihn alle zwei Stunden aufweckten. Sie überprüften Augen und Temperatur und fragten ihn, ob er okay sei. Sie gaben ihm nichts gegen seine Kopfschmerzen und sagten jedesmal, er solle wieder einschlafen. Falls er von dem Coyoten oder von etwas anderem in diesen kurzen Schlafintervallen träumte, erinnerte er sich nicht daran.
Mittags stand er schließlich auf. Anfangs war er noch etwas wackelig auf den Beinen, aber dann kehrte sein Gleichgewichtsgefühl zurück. Er gelangte ins Badezimmer und studierte sein Spiegelbild. Er mußte laut lachen, obwohl es eigentlich nicht besonders komisch war. Bosch hatte das Gefühl, als könnte er jeden Moment über etwas lachen oder weinen oder beides gleichzeitig tun.
Auf seinem Kopf befand sich eine rasierte Stelle mit einer L-förmigen Narbe, die vernäht war. Wenn er die Wunde berührte, schmerzte es. Aber auch das brachte ihn zum Lachen. Es gelang ihm, mit der Hand Haare über die Stelle zu kämmen und die Wunde zu verbergen.
An seinen Augen konnte er nichts ändern. Die Pupillen waren immer noch ungleichmäßig und blutunterlaufen. Er sah aus, als hätte er eine zweiwöchige Sauftour hinter sich. Unter den Augen befanden sich zwei Veilchen. Dunkelrote Dreiecke, die auf seine Augenwinkel zuliefen. Bosch konnte sich nicht erinnern, überhaupt jemals eins gehabt zu haben.
Als er in sein Zimmer zurückkehrte, sah er, daß Irving seine Aktentasche neben den Nachttisch gestellt hatte. Er beugte sich hinunter, um sie aufzuheben, und verlor dabei beinahe das Gleichgewicht. Im letzten Moment konnte er sich noch am Nachttisch festhalten. Mit der Tasche setzte
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