Der letzte Coyote
er sich wieder aufs Bett und begann ihren Inhalt durchzusehen. Er suchte nicht nach etwas Bestimmtem, er wollte sich nur beschäftigen.
Als er sein Notizbuch durchlas, fiel es ihm schwer, sich auf die Wörter zu konzentrieren. Dann las er die fünf Jahre alte Weihnachtskarte von Meredith Roman, jetzige Katherine Register. Er begriff, daß er sie anrufen mußte, um ihr zu erzählen, was passiert war, bevor sie es in der Zeitung las oder in den Nachrichten hörte. Ihre Nummer stand in seinem Notizbuch, und er wählte sie sogleich auf dem Telefon in seinem Zimmer. Als sich der Anrufbeantworter meldete, hinterließ er eine Nachricht.
»Meredith, äh, Katherine … hier Harry Bosch. Ich muß mit dir heute sprechen, wenn du Zeit hast. Inzwischen ist einiges passiert und ich glaube, äh, du wirst in bezug auf einige Sachen erleichtert sein. Also, ruf mich an.«
Bosch hinterließ mehrere Nummern auf dem Band – von seinem Handy, vom Mark Twain und von seinem Krankenhauszimmer – und legte auf.
Er öffnete ein Innenfach in der Aktentasche und zog das Foto heraus, das Monte Kim ihm gegeben hatte. Er betrachtete lange das Gesicht seiner Mutter, bis eine Frage in ihm aufstieg. Bosch zweifelte nicht an Conklins Versicherung, daß er sie geliebt hatte. Aber er fragte sich, ob sie seine Liebe erwidert hatte. Bosch erinnerte sich an einen ihrer Besuche im McClaren, bei dem sie ihm versprochen hatte, ihn herauszuholen. Zu der Zeit machten ihre Versuche, das Sorgerecht zurückzubekommen, keine rechten Fortschritte, und Bosch wußte, daß sie nicht viel von den Gerichten hielt. Als sie ihm das Versprechen gab, ahnte er, daß sie nicht an den Rechtsweg dachte, sondern an Möglichkeiten, wie man ihn umgehen oder manipulieren konnte. Und er hatte immer daran geglaubt, daß sie einen Ausweg gefunden hätte, wäre ihre Zeit nicht vorher abgelaufen gewesen.
Beim Betrachten des Fotos begriff er, daß Conklin Teil ihres Plans, Teil ihrer Strategie gewesen war. Durch eine Heirat mit Conklin hätte sie Harry aus dem Heim holen können. Aus einer unverheirateten Mutter mit Vorstrafenregister hätte sie sich in die Ehefrau einer wichtigen Persönlichkeit verwandelt. Bosch erwog jetzt, daß die Beziehung für sie nichts mit Liebe zu tun gehabt hatte. Sie war möglicherweise nur als ein Ausweg erschienen. Bei ihren Besuchen im McClaren hatte sie nie Conklin oder irgendeinen anderen Mann erwähnt. Wenn sie wirklich verliebt gewesen wäre, hätte sie es ihm dann nicht gesagt?
Während er sich die Frage durch den Kopf gehen ließ, begriff Bosch plötzlich, daß seine Mutter letztendlich gestorben war, weil sie versucht hatte, ihn zu retten.
»Mr. Bosch, alles in Ordnung?«
Die Krankenschwester kam eilenden Schrittes ins Zimmer und stellte das Essenstablett klirrend auf den Tisch. Bosch antwortete nicht, er nahm sie kaum wahr. Sie nahm die Serviette vom Tablett und wischte ihm damit die Tränen von den Wangen.
»Das macht nichts«, beruhigte sie ihn. »Es ist normal.«
»Wirklich?«
»Das ist die Verletzung. Sie brauchen sich nicht zu schämen. Kopfverletzungen wirbeln die Gefühle durcheinander. In der einen Minute weint man, in der nächsten lacht man. Wir werden die Vorhänge aufziehen. Vielleicht bringt Sie das in bessere Stimmung.«
»Ich glaube, ich will bloß allein sein.«
Sie ignorierte ihn und öffnete die Vorhänge. Jetzt konnte Bosch sieben Meter weiter ein anderes Hochhaus sehen. Seine Stimmung verbesserte sich jedoch tatsächlich. Die Aussicht war so mies, daß er lachen mußte. Er erkannte das Gebäude. Es war im Cedars Hospital.
Die Krankenschwester schloß seine Aktentasche, damit sie die Tischfläche über das Bett fahren konnte. Auf dem Tablett stand ein Teller mit Hacksteak, Kartoffeln und Karotten. Daneben lagen ein Brötchen, das so hart aussah wie die Billardkugel, die er gestern in seiner Tasche gefunden hatte, und eine rote Nachspeise, die in Plastik verpackt war. Das Tablett und der Essensgeruch riefen bei ihm Übelkeit hervor.
»Ich mag das nicht essen. Haben Sie Corn-flakes?«
»Sie müssen eine richtige Mahlzeit essen.«
»Ich bin gerade erst aufgewacht. Man hat mich die ganze Nacht nicht schlafen lassen. Ich kann das nicht essen. Davon wird mir übel.«
Sie nahm das Tablett sofort weg und ging zur Tür.
»Ich werde sehen, was ich tun kann – wegen der Cornflakes.«
Sie schaute zu ihm zurück und lächelte, bevor sie rausging »Kopf hoch.«
»Ja, das wird sicher helfen.«
Bosch wußte nicht, was er
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