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Der letzte Coyote

Der letzte Coyote

Titel: Der letzte Coyote Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Connelly
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unterlaufenen Augen.
    Er legte den Rasierapparat auf den Waschbeckenrand und beugte sich näher zum Spiegel. Seine Haut war bleich wie ein Pappteller. Während er sich betrachtete, dachte er daran, daß man ihn früher für gutaussehend gehalten hatte. Vorbei. Er sah kaputt aus. Das Alter schien ihn gepackt und in die Mangel genommen zu haben. Er ähnelte den alten Männern, die er gesehen hatte, nachdem man sie tot in ihren Betten aufgefunden hatte. Die in den billigen Absteigen. Die, die in Verpackungskartons lebten. Sein Aussehen erinnerte ihn mehr an die Toten als an die Lebenden.
    Er öffnete den Arzneischrank, damit sein Spiegelbild verschwand, durchsuchte den Inhalt und nahm ein Fläschchen Murine heraus. Nachdem er sich eine starke Dosis der Tropfen in die Augen geträufelt hatte, wischte er, was herunterlief, mit einem Handtuch aus dem Gesicht. Dann verließ er das Badezimmer, ohne das Schränkchen zu schließen und ohne sich noch einmal anzusehen.
    Er zog seinen besten sauberen Anzug an, einen grauen Zweiteiler, ein weißes Hemd und seine rötlichbraune Krawatte mit den Gladiatorenhelmen. Es war seine Lieblingskrawatte. Und seine älteste. Ein Saum war ausgefranst, aber er trug sie zwei- oder dreimal die Woche. Er hatte sie vor zehn Jahren gekauft, als er ins Morddezernat versetzt wurde. Mit einer goldenen Nadel, die die Zahl 187 zeigte, dem Paragraphen für Mord, befestigte er sie auf seinem Hemd. Allmählich kehrte das Gefühl zurück, daß er sein Leben unter Kontrolle hatte. Er fühlte sich besser und wiederhergestellt – und er spürte seinen Zorn zurückkehren. Jetzt war er bereit, hinaus in die Welt zu gehen. Egal, ob die Welt für ihn bereit war oder nicht.

10
    B osch zog den Knoten seiner Krawatte fest, bevor er die Hintertür des Polizeireviers öffnete. Er ging durch den Flur zum Großraumbüro und dann den Gang zwischen den Tischen der Detectives entlang nach vorne, wo Pounds in seinem Kasten hinter Glasscheiben saß, die ihn von den Leuten abschotteten, die er befehligte. Köpfe hoben sich am Einbruchs-Tisch, als man ihn bemerkte, dann am Raub-Tisch und am Mord-Tisch. Bosch nickte niemandem zu – beinahe wäre er jedoch aus dem Tritt geraten, als er jemanden auf seinem eigenen Stuhl sitzen sah. Burns. Edgar saß mit dem Rücken zu ihm und sah ihn nicht kommen.
    Aber Pounds hatte ihn erblickt. Durch die Glaswand sah er Bosch auf sein Büro zusteuern und erhob sich vom Schreibtisch.
    Das erste, was Bosch auffiel, war, daß die Scheibe, die er vor einer Woche zerbrochen hatte, schon wieder ersetzt worden war. Es war bemerkenswert, daß es so schnell geschehen war, da doch wichtigere Reparaturen – wie das Auswechseln einer von Kugeln durchlöcherten Windschutzscheibe eines Streifenwagens normalerweise einen Monat Papierkrieg erforderten. Aber so lagen eben die Prioritäten im Polizeirevier.
    »Henry!« kommandierte Pounds. »Komm herein.«
    Ein alter Mann, der am Eingangsschalter saß, Anrufe auf der öffentlichen Leitung entgegennahm und Auskunft gab, sprang auf und tapste ins Glasbüro. Er war einer der Freiwilligen, die hier Dienst taten. Die meisten waren Rentner und wurden von den Cops kollektiv Schnarchdezernat genannt.
    Bosch folgte dem alten Mann hinein und stellte seine Aktentasche auf den Boden.
    »Bosch!« jaulte Pounds. »Ich habe einen Zeugen hier!«
    Er deutete auf den alten Henry und dann nach draußen.
    »Und da ebenfalls Zeugen.«
    Bosch stellte fest, daß die Blutergüsse unter Pounds’ Augen noch nicht ganz verschwunden waren. Die Schwellungen waren jedoch abgeklungen. Bosch trat zum Schreibtisch und griff in seine Jackentasche.
    »Zeugen wofür?«
    »Was immer du hier vorhast.«
    Bosch wandte sich an den alten Mann: »Henry, du kannst gehen. Ich werde nur mit dem Lieutenant sprechen.«
    »Henry, du bleibst«, befahl Pounds. »Ich möchte, daß du alles hörst.«
    »Woher weißt du, daß er sich erinnern wird, Pounds? Er kann noch nicht einmal einen Anruf richtig verbinden.«
    Bosch schaute wieder Henry an und fixierte ihn mit einem Gesichtsausdruck, der keinen Zweifel ließ, wer hier das Kommando hatte.
    »Mach die Tür hinter dir zu.«
    Henry warf Pounds noch einen ängstlichen Blick zu, verließ dann aber eilig das Büro und schloß die Tür wie geheißen. Bosch wandte sich wieder Pounds zu.
    Mit der Geschmeidigkeit einer Katze, die sich an einem Hund vorbeidrückt, glitt der Lieutenant in seinen Sessel, von dem er sich wohl etwas Sicherheit erhoffte, da er nun Bosch

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