Der letzte Coyote
Fälle geschrieben. Es ging um einen Ehemann, der seine Frau geschlagen und sich anschließend über eine Gerichtsverfügung, sich von ihr fernzuhalten, hinweggesetzt hatte. Er war zu der neuen Wohnung der von ihm getrennt lebenden Ehefrau gegangen, hatte sie auf den Balkon im vierten Stock geschleppt und hinuntergeworfen. Dann war er selbst gesprungen. Russel hatte wiederholt mit Bosch gesprochen. Die veröffentlichten Artikel waren gründlich und umfassend. Es war gute Arbeit, und sie hatte seinen Respekt gewonnen. Ihm war jedoch klar, daß sie hoffte, die Berichte und ihre Aufmerksamkeit würden die Grundlage für eine lange Beziehung zwischen Reporter und Detective bilden. Seitdem war keine Woche vergangen, in der sie ihn nicht ein- oder zweimal wegen irgendwelchem Kram angerufen hatte. Sie erzählte ihm Klatsch, den sie aus anderen Quellen gehört hatte, und stellte ihm dann die journalistische Gretchenfrage: »Gibt es irgend etwas Neues?«
Sie meldete sich nach dem ersten Klingeln, und Bosch war überrascht, daß sie schon so früh da war. Er hatte vorgehabt, eine Nachricht auf ihrem Anrufbeantworter zu hinterlassen.
»Keisha, hier Bosch.«
»He, Bosch, wie geht’s?«
»Okay. Wahrscheinlich haben Sie gehört, was passiert ist.«
»Nicht alles. Nur daß Sie vorläufig suspendiert sind. Aber niemand wollte mir sagen, warum. Wollen Sie darüber sprechen?«
»Nein, eigentlich nicht. Ich meine, nicht jetzt. Ich wollte Sie um einen Gefallen bitten. Wenn etwas daraus wird, bekommen Sie die Story. So habe ich es bisher mit Reportern gehalten.«
»Was muß ich tun?«
»Gehen Sie ins Archiv.«
»Was brauchen Sie?«
»Ich habe einen Namen. Es ist eine alte Sache. Der Typ war ein dreckiger, kleiner Gauner in den fünfziger und frühen sechziger Jahren. Danach habe ich seine Spur verloren. Ich vermute, daß er tot ist.«
»Sie wollen den Nachruf.«
»Nun, ich glaube nicht, daß die Times so etwas zu seinem Ableben veröffentlicht. Er war ein kleiner Fisch. Aber ich hoffe, daß es vielleicht einen Artikel gibt, falls er nicht eines natürlichen Todes gestorben ist.«
»Sie meinen, falls man ihn umgebracht hat.«
»Genau.«
»Okay, ich werde nachsehen.«
Sie schien begierig zu sein, ihm zu helfen. Sicher dachte sie, daß dieser Gefallen ihre Beziehung weiter festigen und sich später einmal auszahlen würde. Er sagte nichts, was sie in ihrem Glauben erschüttern würde.
»Wie lautet der Name?«
»John Fox. Er ließ sich Johnny nennen. Letztes Lebenszeichen 1961. Er war Zuhälter, ein echtes Schwein.«
»Weiß, schwarz, gelb oder braun?«
»Ein weißes Schwein.«
»Haben Sie ein Geburtsdatum? Falls es mehr als einen Johnny Fox im Archiv gibt.«
Er gab es ihr.
»Okay, wo kann ich Sie erreichen?«
Bosch gab ihr die Nummer seines Handys. Das war der Köder. Sie würde sie im Computer auf ihrer Informantenliste speichern, ihrem elektronischen Schatzkästchen. Die Telefonnummer zu haben, unter der er jederzeit erreichbar war, war die Suche im Archiv wert.
»Okay, passen Sie auf, ich habe eine Besprechung mit meinem Redakteur – deshalb bin ich schon so früh da. Danach werde ich nachsehen. Ich rufe an, sobald ich etwas habe.«
»Falls es etwas gibt.«
»Richtig.«
Nachdem Bosch aufgelegt hatte, aß er ein paar Cornflakes aus einer Packung, die er aus dem Kühlschrank geholt hatte, und stellte die Radionachrichten an. Er hatte seine Zeitung nach dem Erdbeben für den Fall abbestellt, daß Gowdy von der Bauaufsicht eines Morgens vorbeikam und an diesem Indiz sah, daß immer noch jemand im Haus wohnte. Es gab nichts in den Hauptnachrichten, was ihn interessierte. Kein Mord in Hollywood. Er verpaßte nichts.
Nach dem Verkehrsbericht kam eine Nachricht, die seine Aufmerksamkeit erregte. Ein Oktopus im städtischen Aquarium von San Pedro hatte sich anscheinend umgebracht, indem er mit einem Arm eines der Rohre für die Wasserzirkulation herausgerissen hatte. Das Aquarium war leergelaufen und der Oktopus gestorben. Umweltschützer nannten es Selbstmord, einen verzweifelten Protest gegen die Gefangenschaft. So was gibt es nur in L. A., dachte Bosch. Ein Ort, wo sogar Meerestiere so verzweifelt sind, daß sie sich umbringen.
Er duschte lange, schloß die Augen und hielt den Kopf direkt unter den Wasserstrahl. Als er sich danach vor dem Spiegel rasierte, konnte er es nicht vermeiden, die Ringe unter seinen Augen zu studieren. Sie erschienen ihm jetzt noch ausgeprägter und paßten gut zu seinen vom Trinken rot
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