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Der letzte Coyote

Der letzte Coyote

Titel: Der letzte Coyote Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Connelly
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Wänden, aber er entdeckte zwei Nägel, die nicht verrostet oder übermalt worden waren. Sie steckten noch nicht lange in der Wand.
    Durch zwei Verandatüren kam man vom Wohnzimmer in einen Wintergarten. Hier standen Rattanmöbel und mehrere Topfpflanzen, einschließlich eines Zwergorangenbaums mit einer Frucht, deren Duft den ganzen Raum erfüllte. Bosch trat nahe an die Fenster und schaute die Hintergasse entlang in Richtung Süden. Er konnte die Bucht sehen, die strahlend weiß in der Morgensonne glitzerte.
    Bosch kehrte ins Wohnzimmer zurück, wo sich noch eine Tür an der gegenüberliegenden Wand befand. Als er sie öffnete, stach ihm der scharfe Geruch von Öl und Terpentin in die Nase. Hier malte sie also. Er zögerte nur einen Moment, dann trat er ein.
    Das erste, was er bemerkte, war das Fenster, von dem aus man hinter Gärten und den Garagen von drei oder vier Häusern die Bucht sehen konnte. Es war eine herrliche Aussicht, und er wußte sofort, warum sie in diesem Raum ihr Studio hatte. In der Mitte stand auf einem farbbefleckten Abdecktuch eine Staffelei, aber kein Hocker. Sie malte im Stehen. Er entdeckte weder eine Deckenlampe noch sonst eine künstliche Lichtquelle. Sie malte bei natürlichem Licht.
    Er ging um die Staffelei herum und sah, daß die Leinwand noch unberührt war. An einer Seitenwand stand eine hohe Werkbank. Verschiedene Farbtuben sowie Paletten lagen dort neben Kaffeedosen mit Pinseln. Am Ende der Werkbank befand sich ein großes Becken, das früher wohl zum Spülen gedient hatte.
    Bosch entdeckte mehrere Leinwände, die unter der Werkbank gegen die Wand gelehnt waren. Sie waren umgedreht und sahen unbenutzt aus, wie die auf der Staffelei, schienen sie darauf zu warten, bemalt zu werden. Die leeren Nägel in den anderen Räumen erweckten in ihm jedoch einen Verdacht. Er griff unter die Ablage und zog einige heraus. Dabei kam es ihm vor, als ob er ein Geheimnis lüftete und einen Fall löste.
    Die drei Porträts waren in dunklen Tönen gehalten. Keines war signiert, aber es war klar, daß sie von einer Hand stammten. Von Jasmine. Bosch erkannte ihren Stil von dem Gemälde in der Wohnung ihres Vaters wieder. Markante Linien und dunkle Farben. Das erste war ein Akt einer Frau, deren Gesicht vom Betrachter abgewandt und ins Dunkle gerichtet war. Bosch hatte weniger das Gefühl, daß die Frau sich ins Dunkle abwandte, sondern eher, daß die Dunkelheit die Frau aufnahm. Ihr Mund verschwand im Schatten, so als sei sie stumm. Er wußte, daß die Frau Jasmine sein mußte.
    Das zweite Gemälde schien Teil der gleichen Studie zu sein. Es war die gleiche Frau im Schatten. Nur diesmal sah sie den Betrachter an. Bosch stellte fest, daß Jasmine sich auf dem Bild vollere Brüste gegeben hatte, und fragte sich, ob es Absicht war und etwas zu bedeuten hatte. Unter der Grauschicht des Schattens nahm Bosch rote Farbtupfer auf dem Gesicht der Frau wahr. Als Kunstwerk konnte er es schlecht beurteilen, aber ihm war klar, daß dies ein düsteres Selbstbildnis war.
    Bosch schaute sich das dritte Bild an, das er herausgezogen hatte, und bemerkte, daß es nicht mit den beiden anderen zusammenhing – außer, daß es ebenfalls ein Aktporträt von Jasmine war. Er sah jedoch sogleich, daß es eine Variation von Edvard Munchs ›Der Schrei‹ war, einem Gemälde, das ihn schon immer fasziniert hatte und das er bisher nur aus Büchern kannte. Auf dem Gemälde vor ihm war es Jasmine, die vor Angst schrie. Die Szene war von Munchs entsetzlicher, wirbelnder Traumlandschaft auf die Skyway Bridge verlegt worden. Bosch erkannte deutlich die leuchtendgelben Streifen der Brückenaufhängung.
    »Was tust du?«
    Er fuhr zusammen, als hätte ihm jemand in den Rücken gestochen. Es war Jasmine. Sie stand an der Studiotür in einem seidenen Bademantel, den sie mit den Armen vorne zusammenhielt. Ihre Augen waren verquollen. Sie war gerade erst aufgewacht.
    »Ich sehe mir deine Arbeiten an. Darf ich?«
    »Die Tür war verschlossen.«
    »Nein, das war sie nicht.«
    Sie ergriff den Türknauf und drehte ihn, als ob sie damit seine Behauptung widerlegen könnte.
    »Sie war nicht verschlossen, Jazz. Es tut mir leid, ich wußte nicht, daß ich nicht rein durfte.«
    »Könntest du die Bilder bitte wieder wegstellen?«
    »Klar. Aber warum hast du sie von den Wänden genommen?«
    »Das habe ich nicht getan.«
    »Weil es Aktbilder sind, oder wegen ihrer Bedeutung?«
    »Bitte frag mich nicht. Stell sie zurück.«
    Sie verschwand aus dem

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