Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der letzte Coyote

Der letzte Coyote

Titel: Der letzte Coyote Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Connelly
Vom Netzwerk:
erzählen.«
    Er fühlte, daß er ihr alles erzählen konnte und daß sie ihn nicht verurteilen würde.
    »Ich wuchs die meiste Zeit in einem Heim auf … eine Art Waisenheim. Als ich dort neu war, nahm mir einer der älteren Jungen die Turnschuhe weg. Sie paßten ihm nicht. Er nahm sie mir weg, weil er es konnte. Er war einer der Anführer im Heim. Ich wehrte mich nicht dagegen, und es tat mir weh.«
    »Aber du hast nichts getan. Das ist nicht das, was ich …«
    »Warte, ich bin noch nicht fertig. Ich habe es dir nur erzählt, damit du die Vorgeschichte kennst. Als ich älter war und zu der herrschenden Clique gehörte, tat ich das gleiche. Ich nahm einem Neuen die Schuhe weg. Er war kleiner, und ich konnte die Schuhe nicht einmal anziehen. Aber ich nahm sie und ich … warf sie weg – ich weiß es nicht mehr genau. Ich nahm sie ihm fort, weil ich konnte. Ich tat das gleiche, was man mir angetan hatte … Manchmal denke ich daran und fühle mich schlecht.«
    Sie drückte seine Hand. Sie schien ihn trösten zu wollen, aber er sagte nichts.
    »War das die Art Geschichte, die du hören wolltest?«
    Sie drückte seine Hand noch einmal. Nach einer Weile sprach er weiter.
    »Am meisten bereue ich aber wohl, daß ich eine Frau gehen ließ.«
    »Was meinst du, eine Verbrecherin?«
    »Nein. Wir lebten … wir hatten eine Beziehung, und als sie gehen wollte, tat ich eigentlich … überhaupt nichts. Ich habe nicht um sie gekämpft. Wenn ich darüber nachdenke, glaube ich manchmal, daß sie vielleicht ihren Entschluß geändert hätte … Ich weiß nicht.«
    »Hat sie gesagt, warum sie dich verließ?«
    »Sie sagte nur, daß sie mich zu gut kenne. Ich gebe ihr keine Schuld. Ich hab’ ziemlich viel emotionales Gepäck. Es ist schwer, mit mir auszukommen. Ich habe den größten Teil meines Lebens allein gelebt.«
    Abermals breitete sich Schweigen aus, und er wartete. Er spürte, daß es etwas gab, das sie sagen oder gefragt werden wollte. Als sie jedoch sprach, wußte er nicht, ob sie ihn oder sich meinte.
    »Man sagt, daß eine bösartige Katze, die jeden kratzt und anfaucht – sogar wenn sie jemand streicheln will –, als kleines Kätzchen nicht genug auf dem Arm gehalten wurde.«
    »Das habe ich noch nicht gehört.«
    »Ich glaube, es ist wahr.«
    Er schwieg einen Moment und bewegte seine Hand nach oben, so daß sie ihre Brüste berührte.
    »Ist das deine Geschichte?« fragte er. »Du wurdest nicht genug im Arm gehalten?«
    »Wer weiß?«
    »Was war das Schlimmste, was du dir je angetan hast, Jasmine? Ich glaube, du willst es erzählen.«
    Er spürte, daß sie gefragt werden wollte. Sie wollte ihm ihre Geschichte anvertrauen, und er begann zu glauben, daß sie diesen Moment den ganzen Abend über angesteuert hatte.
    »Du hast jemanden nicht zurückgehalten, den du hättest zurückhalten sollen«, sagte sie. »Ich habe mich an jemanden geklammert und hätte es nicht tun sollen. Ich konnte nicht loslassen. Im Innersten wußte ich, worauf es hinauslief. Es war, als stände ich auf den Schienen und sähe den Zug kommen, aber ich war von dem Anblick zu hypnotisiert, um mich bewegen zu können.«
    Seine Augen waren immer noch geöffnet. Die Umrisse ihrer Schultern und ihrer Wange waren schwach zu erkennen. Er rückte näher, küßte ihren Hals und flüsterte ihr ins Ohr: »Aber du bist aus der Situation rausgekommen. Das ist es, was zählt.«
    »Ja, ich bin da rausgekommen«, sagte sie schwermütig.
    Sie schwieg eine Weile. Dann griff sie unter das Laken und berührte seine Hand, die auf ihrer Brust lag. Sie legte ihre Hand darüber.
    »Gute Nacht, Harry.«
    Er wartete, bis er sie regelmäßig atmen hörte. Sie schlief. Da konnte auch er endlich einschlafen. In dieser Nacht gab es keine Träume, nur Wärme und Dunkelheit.

28
    A m Morgen erwachte Bosch als erster. Er duschte und borgte sich Jasmines Zahnbürste, ohne zu fragen. Dann zog er an, was er am Tag zuvor getragen hatte, und ging nach draußen, um seine Reisetasche aus dem Wagen zu holen. In frischen Sachen betrat er die Küche, um Kaffee zu machen. Alles, was er jedoch fand, war eine Schachtel mit Teebeuteln.
    Er gab seinen Plan auf und sah sich im Apartment um. Unter seinen Schritten knarrten die alten Holzdielen. Das Wohnzimmer war ebenso spärlich eingerichtet wie das Schlafzimmer. Ein Sofa mit einer elfenbeinfarbenen Decke, ein Couchtisch, eine alte Stereoanlage mit einem Kassettenrecorder, aber ohne CD-Spieler. Kein Fernsehen. Auch hier hing nichts an den

Weitere Kostenlose Bücher