Der letzte Drache
das Paar vom Nachmittag hatte recht gehabt. Da flog etwas, und Ella hätte schwören können, es war ein Drache. Angestrengt starrte sie auf das Objekt und versuchte sich seine Flugbahn einzuprägen. Sie meinte erkennen zu können, dass es in Richtung des Berges kurvte, an dessen Fuß dieser See lag und dabei an Höhe verlor. Aber nachdem der Drache nicht mehr vor dem hell leuchtenden Mond flog, war er mehr zu erahnen denn zu erkennen. Aufgeregt schlich sie zurück zum Zelt. Was für eine Neuigkeit. Baldur würde Augen machen. Doch als sie am Zelt ankam, begrüßte sie ein rhythmisches Schnarchen. Sie musste sich diese aufregende Geschichte für den nächsten Morgen aufheben. Ella verspürte eine leichte Welle der Enttäuschung, schlüpfte in den geliehenen Schlafsack und war sofort eingeschlafen. Der Schlaf brachte ihr Träume von Drachen und anderen schönen Dingen.
16 Druidensteine
Der neue Tag begann zu früh für notorische Langschläfer. Nachdem es in der Nacht noch so kühl gewesen war, dass Baldur und Ella näher zusammengerückt waren, um sich aneinander zu wärmen, heizte sich das Zelt auf, sobald die Sonne aufgegangen war. Und die ging zu dieser Jahreszeit recht früh auf. Die Vögel folgten dem Weckruf der Sonne und verstärkten ihn durch ihr dutzendfaches, ja hundertfaches Zwitschern. Baldur befreite seine Augen von den Spuren der Nacht, schälte sich aus seinem Schlafsack und öffnete den Reißverschluss des Zeltes. Als der helle Sonnenstrahl ihn ungefiltert im Gesicht traf, fühlte er sich wie ein Vampir, der in der prallen Sonne zu Staub zerfiel. Doch nach wenigen Momenten war er hellwach und motivierte Ella, es ihm gleichzutun.
Sie hatten viel vor, Zeit für einen betulichen Start in den Tag hatten sie nicht. Am See verrichteten sie eine Katzenwäsche, ansonsten musste ein Kaffee als Frühstücksersatz herhalten. Heute war Ella dran. Es gelang ihr, den Gaskocher in Betrieb zu setzen und Wasser zu erhitzen.
“Du lernst schnell”, lobte Baldur sie. “Gestern dachte ich noch, dass so ein Gaskocher in deinen Händen eine gefährliche Waffe ist.”
Ella lächelte. Einen Campingurlaub hatte sie noch nie gemacht, aber die Nacht im Freien, an der frischen Luft, hatte ihr gut gefallen. Trotz der ungewohnten Wanderung gestern fühlte sie sich frisch und ausgeruht.
“Baldur?”
“Ja?” Wenn Ella einsilbig wurde, durfte man Überraschendes erwarten.
“Könntest du mir eine deiner Trekkinghosen leihen?”
“Aber gerne, ich habe eine zum Wechseln mit, aber das Wetter ist ja gut. Du kannst sie gerne haben.” Das war erfreulich, die Vernunft zog ein, ein weiterer Tag in “Wanderrock” und Strumpfhose blieb ihnen beiden erspart.
Natürlich saß die Hose alles andere als perfekt, doch nachdem sie den Gürtel eng gezogen und die Hosenbeine aufgekrempelt hatte, war es allemal besser als Nylonstrumpfhosen.
Ella hatte den Instantkaffee im fast kochenden Wasser aufgelöst und beide saßen nun im Schatten eines Baumes und schlürften das etwas zu heiße Getränk. Baldur hatte das Zelt bereits professionell zusammengelegt. Er hatte den Trick raus, wie man das Wurfzelt zusammenzuwinden hatte, auf dass es sich auch am Abend wieder ganz von selbst entfalten würde. Drei Handgriffe reichten ihm, dann fixierte er es mit dem Band und steckte es in seine kreisförmige Hülle.
Die Wanderung führte sie nun immer tiefer in den Wald, immer näher zum Berg. Ella hatte Baldur von ihrer nächtlichen Beobachtung berichtet. Auch wenn sie sich nicht sicher war, ob sie wirklich einen Drachen gesehen hatte - schließlich war es dunkel und sie war erschöpft von der ungewohnten Wanderung gewesen - die Richtung, in die sie den Drachen fliegen gesehen hatte, war die, in die der Weg sie führte.
Immer häufiger stießen sie nun auf die merkwürdigen Brandzeichen am Boden. Baldur bemerkte weitere Zeichen: Einen auf unnatürliche Weise abgeknickten Baum, einen übelriechenden Haufen Aas, der von einer ganzen Horde Kühe auf einmal zu stammen schien und eine Stelle im Gebüsch, die aussah, als habe sich ein Hund gewälzt, um sein Lager zu bereiten. Nur dass dieser Hund sicherlich an die 20 Meter lang sein musste, um solche Spuren zu hinterlassen.
Ihr Weg führte sie im Wesentlichen am See entlang. Es war eine wunderschöne und doch sehr einsame Wanderung, so tief im Wald. Gegen Mittag erreichten sie das Gebiet, das sie als Ziel ausgemacht hatten - und standen nach einer Wegbiegung vor den Druidensteinen.
“Nanu, hier sind
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