Der letzte Drache
Er telefonierte. Baldur hörte genauer hin, es waren nur Bruchstücke, die sein Ohr erreichten.
“Ja, …, Lara, .. doch, … ja sicher. Blond.... so wuschelige Haare... ja, nein, nicht elegant. …”
Was er hörte reichte ihm. Der junge Mann hatte die falschen Freunde. Baldur stellte den Wecker vor auf 5. Er war nun wirklich kein Frühaufsteher, aber sie waren in Gefahr.
15 Vollmond
Ein Gongschlag riss sowohl Ella als auch Baldur aus dem Schlaf. Der Gong verkündete, dass das Frühstück bereit stand. Frühstück gab es bei Frau Vogelsang pünktlich um acht Uhr morgens. Baldurs Gehirn nahm langsam seine Arbeit auf und kam zu erschreckenden vorläufigen Hochrechnungen. Hatte er den Wecker nicht auf 5 Uhr Nachts gestellt? Aus gutem Grund? Wo war der Wecker überhaupt? Er verließ das Bett, im Schlafsaal war es bereits hell, die anderen Betten alle leer. Doch vor dem seinen war kein Wecker zu sehen. Seine Hände durchwühlten die Bettwäsche. Unter seinem Kopfkissen wurden sie fündig. Der Wecker war ausgeschaltet. Der Kriminalist in Baldur hatte eine Theorie, die auf ähnlich gelagerten Fällen aus der Vergangenheit beruhte. Da hatte er wohl ganz unbewusst, noch im Schlaf, den Wecker zum Schweigen gebracht. Baldur seufzte und ärgerte sich über diesen verwerflichen Mangel an Disziplin. Auch seine Mitstreiterin im Bett über ihm war keine große Hilfe. Sie hatte selbst den scheppernden Vogelsangschen Gong ausgeblendet und atmete bereits wieder tief und ruhig, wie es Schlafende zu tun pflegen.
“Ella” Nichts. “Ella” Keine Regung. So würde das nichts werden. Aber da stand ja noch der Ghettoblaster. Baldur konnte nicht widerstehen. Er drehte die Lautstärke ins obere Viertel und drückte die PLAY Taste.
“SLAY THE DRAGON, SLAY THE DRAGON”. Ella fuhr aus dem Schlaf, schwang sich in einer einzigen fließenden Bewegung auf den Boden und ging in eine Verteidigungsstellung, die Baldur nur aus Kung-Fu-Filmen kannte. Sie blickte sich um und ihre Spannung verflog.
“Baldur, würdest du bitte dieses Gerät zum Schweigen bringen.” Schuldbewusst drückte Baldur die STOP Taste.
“Sorry, ich wusste nur nicht, wie ich dich sonst wachkriegen sollte. Wir sind sehr spät dran.”
“Ich hab geträumt, wir würden von einer Horde von diesen Drachenschlächtern überfallen. Da passte der Song natürlich ins Konzept. Du hast mir wirklich einen ziemlichen Schrecken eingejagt. Aber jetzt bin ich zumindest richtig wach.” Ella lächelte bereits wieder. Es gab wenig, dem sie nicht eine positive Seite abgewinnen konnte und es musste viel schlimmer kommen, als dass sie einen neuen Tag nicht mit einem Lächeln startete, denn einen Tag, den man mit einem Lächeln startete, zitierte sie gern eine alberne Poesiealbumweisheit, den hatte man schon gewonnen.
“Ella, das sah aber eben sehr, sehr cool aus. Wo hast du das denn gelernt?” Baldur war tatsächlich beeindruckt.
Ella macht ein paar Ausfallschritte und deutete einige Handbewegungen an.
“Nix besonderes, ich tu eben was für meine Figur, ein wenig Qui Gong, Tai Chi und so.” Für Baldur hatte das eher nach schwarzem Gürtel ausgesehen, aber er verstand von diesen Dingen nichts und gab sich mit ihrer Antwort zufrieden.
“Na komm, da wir jetzt schon mal pünktlich wach sind, lass uns zum Frühstück gehen. Ich hab ewig keinen Filterkaffee mehr getrunken.”
Das Frühstück hatte sie gekräftigt. Nur so hatte Ella den Abschied von großen Teilen ihrer Kosmetika ertragen können. Den Schminkkoffer konnte sie auf die Wanderung nicht mitnehmen. Baldur hatte ihr das Nötigste zugestanden, Zahnpaste, Zahnbürste, Seife, und Ella hatte sich ein wenig Creme und Deo erkämpft. Sie fühlte sich in die kosmetikfreie Grundschulzeit zurückversetzt. So genoss Baldur einen relativ ruhigen Start der Wanderung, da Ella noch tief in Gedanken war, als sie zu Fuß die Stadt verließen und Kurs auf den nahegelegenen Wald nahmen. Dort begann ein großes Naturschutzgebiet mit hervorragend ausgebauten Wanderwegen. Baldur hatte sich eine App heruntergeladen und konnte mit seinem Smartphone nachverfolgen wo sie sich gerade befanden. Er hatte die Zielmarkierung in die Karte übertragen, so genau das auf Basis des alten Pergaments möglich gewesen war. Es war ein wundervoller Morgen, die Sonne schien, die Luft war klar, doch schon nach wenigen Stunden wurde Ella merklich langsamer. Ihre Wanderschuhe waren keine echten Wanderschuhe gewesen, das war klar, sie sahen aus, wie ein
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