Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Der letzte Elf

Titel: Der letzte Elf Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Silvana DeMari Silvana De Mari
Vom Netzwerk:
riesig mit zwei enormen grünen Flügeln, die den Himmel ausfüllten und durch die das Licht hindurchfiel. Der Prinz trug ein Gewand, so weiß wie die Flügel der Wildgänse, wenn sie ihren Flug in den Süden antreten. Der Prinz lächelte. Der Drache kam auf sie zugeflogen. Die beiden kamen, um sie zu holen. Um sie wegzuholen von hier. Für immer. Dieses Traumbild entstand ganz von allein. Anfangs war es undeutlich gewesen: etwas Helles über etwas Grünem. Doch von Tag zu Tag wurde es deutlicher. Es war, als ob der Prinz und der Drache die Nebel zerteilten und von Tag zu Tag näher zu ihr kämen. Es war nicht sie, die diesen Traum träumte, wie durch Zauberkraft bildete er sich ganz von selbst in ihrem Kopf.
    Das Mädchen verscheuchte den Traum. Das war Unsinn. Es gab keine Drachen mehr: Sie waren grausame und ruchlose Bestien gewesen, die seit Jahrhunderten ausgerottet waren. Auch gute Prinzen mussten ausgestorben sein oder sie waren allesamt ausgewandert, denn auch an sie gab es keine Erinnerung mehr.
    Robi öffnete die Augen wieder. Eine Schar Rebhühner flog im goldenen Licht des Frühherbsts vor ihr auf. Das Flattern ihrer Flügel überzog den Himmel einen Augenblick lang mit dunklem Türkis. Sie waren von dem Weißdorngebüsch im unteren Teil der Lichtung aufgeflogen, das sowohl vom Waisenhaus als auch vom Schilderhäuschen aus nicht gesehen werden konnte. Ihr Vater war Jäger gewesen. Wäre er noch am Leben gewesen, er hätte seinen Bogen hervorgeholt und sie und Mama hätten gebratenes Rebhuhn mit Rosmarin zu essen bekommen. Ihr Vater hatte Monser geheißen. Er hatte schwarzes Haar gehabt wie sie selbst und war stark gewesen wie eine Eiche. Mama hätte das Rebhuhn gerupft und ihr die Federn einzeln auf ihr Jäckchen genäht, wodurch es wunderhübsch anzusehen und herrlich warm wurde. Ihre Mama hatte Sajra geheißen. Robi versuchte, sich den schmutzigen Rock aus grober grauer Jute über die Knöchel hinunterzuziehen, damit ihr etwas wärmer wurde, aber er war nicht lang genug. Mama hatte dunkelblondes Haar gehabt und die besten Apfelpfannkuchen im ganzen Tal gebacken. Robi stand auf. Sie besaß nicht Pfeil und Bogen wie ihr Vater, aber trotzdem stellten für sie die türkisfarbenen Rebhühner eine Verheißung auf Nahrung dar. Im Frühherbst, wenn sie schön fett waren, nachdem sie sich den ganzen Sommer hindurch an Schmetterlingen, Würmern und Käfern gütlich getan hatten, legten sie ihre Eier. Auch Schmetterlinge, Würmer und Käfer konnte man essen, aber nur wenn es wirklich gar nichts Besseres gab, wohingegen ein Ei eins der besten Dinge auf der Welt ist. Mit einem Ei im Magen verschwindet nicht nur der Hunger für ein Weilchen, sondern auch Kälte und Angst.
    Vorsichtig sah Robi sich um. Sie war als Erste aufgewacht, alle anderen schliefen noch. Sie hörte die Schlafgeräusche der anderen Kinder im Saal: Wie immer waren da Husten und Stöhnen und vom Steinhaus her hörte sie das regelmäßige Schnarchen ihrer Aufseher, der »Hochverehrten Waisenhausvorsteher« Stramazzo und Tracarna, Mann und Frau, wenig schmeichelhaft auch die »Hyänen« genannt, die in einem richtigen Haus mit richtigem Kamin schliefen. Vor ihr lag in der Sonne das Tal, die Berge in der Ferne waren blau und auf den Gipfeln glänzte der erste Schnee. Das Schilderhaus der Wachsoldaten war weit weg und der untere Teil der Lichtung war von dort aus nicht zu sehen. Nach Aussage der Hyänen waren die Soldaten dazu da, die Kinder des Waisenhauses zu beschützen, sollte je irgendein Übeltäter daherkommen, um - ja, man wusste nicht so recht, was anzustellen, vielleicht, ihnen die Flöhe zu klauen, denn das war das Einzige, wovon sie im Überfluss hatten. In Wirklichkeit aber wäre ohne die Wachsoldaten in den Schilderhäuschen kein einziges der Kinder, auch von den kleinsten und blödesten keines, in dieser abscheulichen Bruchbude geblieben, in Gesellschaft der Hyänen und ihres Knüppels, um den Würmern den Maisbrei abzujagen, zu arbeiten bis zum Umfallen, Prügel zu beziehen und je nach Jahreszeit vor Kälte umzukommen oder von den Mücken gefressen zu werden.
    Robi rührte sich nicht, bis sie sicher war, dass alle noch schliefen und keiner sie sah. Denn selbst wenn man das Ei aus einem Rebhuhnnest im offenen Gelände, von einem Nussbaum, der niemandem gehörte, oder aus einem Brombeergestrüpp mitten aus Dornen herausholte, musste es wie alles Essbare abgegeben werden. Aß man es für sich allein, galt das als Diebstahl.
    Diebstahl und

Weitere Kostenlose Bücher