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Der letzte Elf

Titel: Der letzte Elf Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Silvana DeMari Silvana De Mari
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Egoismus. Auch Egoismus war ein schweres Vergehen. Die Eltern von Iomir, Robis bester Freundin, waren Egoisten gewesen, EGOISTEN, E-go-is-ten, wie Tracarna das jedes Mal aussprach, wenn sie es sagte, jede Silbe einzeln betonend. Egoisten, das heißt, sie hatten versucht, weniger Steuern zu zahlen, als von ihnen verlangt wurde, mit der fadenscheinigen Begründung, dass ihre Kinder sonst verhungern würden, und mit dem lächerlichen Argument, dass die Bohnen und das Getreide, die sie in harter Arbeit und im Schweiße ihres Angesichts gezogen hatten, ihr Eigentum seien und nicht das der Grafschaft von Daligar.
    Was ihre eigenen Eltern anging... Robi wollte lieber nicht daran denken, an ihre Eltern. Sie verscheuchte den Gedanken. Nicht heute Morgen. Nicht nachdem sie entdeckt hatte, wo die Rebhühner ihr Nest hatten.
    Langsam bewegte sie sich darauf zu, nicht einmal in gerader Linie, denn falls irgendjemand sie bemerkte, konnte sie immer noch so tun, als streune sie nur ganz harm- und ziellos umher. Sie war sich allerdings nicht sicher, ob es glaubwürdig erscheinen konnte, dass ein halb verhungertes Mädchen in aller Herrgottsfrühe in der Gegend herumstreifte, aber Tracarna und Stramazzo glänzten nicht eben durch Scharfsinn, und sie konnte immer noch erzählen, ein böser Albtraum habe sie früh aus dem Schlaf gerissen und sie habe ihn verscheuchen wollen. Albträume kamen häufiger vor. Das Gras wurde höher. Robi duckte sich hinein. Auf allen vieren kroch sie bis zu dem Gebüsch. Das Nest war auf der Höhe ihrer Nase, fast wäre sie dagegengestoßen. Zwei Eier lagen darin, zwei Momente ohne Hunger. Es waren kleine Eier mit leicht braun gepunkteter Schale, an den hellsten Stellen waren die Pünktchen golden. Robi nahm ein Ei in die Hand und fühlte seine Wärme und Glätte auf der Haut. Einen Moment lang schloss sie die Augen. Wenn sie sie fest an sich drückte, hatte Mama zu ihr gesagt: Wenn wir glücklich sind, dann kehren die Menschen, die uns geliebt haben und nicht mehr da sind, aus dem Totenreich wieder und sind uns nahe. Vielleicht waren Papa und Mama jetzt bei ihr. Robi machte die Augen wieder auf. Noch einmal betrachtete sie ihren unermesslichen Schatz von zwei Rebhuhneiern, dann brach sie ihn an. Das Ei, das sie in der Hand hielt, aß sie gleich. Mit einem kleinen Ast bohrte sie ein Loch hinein und schlürfte es mit wilder Freude aus, erst das Weiße, dann den besseren Teil, das Gelbe, das langsam, Tropfen für Tropfen durch die Kehle rann, mit einer Lust, die etwas von purer Lebensfreude hatte.
    Das Problem war das andere Ei. Der erste Gedanke war, es gleich zu vertilgen. Was man im Magen hat, kann man nicht mehr verlieren, und niemand kann es einem wegnehmen. Aber zwei Eier sind viel, wenn der Magen zu sehr daran gewöhnt ist, halb leer zu sein, behält er die Sachen nicht bei sich, tut weh und gibt alles wieder von sich. Und so viel du auch hineintust, nach einem halben Tag ist der Bauch doch schon wieder völlig verkrampft vor Hunger. Besser, immer nur wenig auf einmal essen. Robi packte das zweite Ei in eine große Erdscholle, die sie wiederum in Gras wickelte, und steckte alles nicht in die große Tasche im Rock, die für Werkzeuge diente, sondern in die andere, geheime Tasche. An der Innenseite der grauen und schmutzigen Joppe hatte sie sich mit großen Dornen als Nadeln und etwas Schnur, die sie aus einem der Maismehlsäcke gezogen hatte, eine Art Innentasche genäht, wo sie Dinge verstecken konnte.
    Ein Tag ohne Hunger. Robi atmete die Morgenluft tief ein. Es würde ein guter Tag werden.

KAPITEL 2
    S trahlend ging die Sonne auf. Sie schien durch die antiken Bernsteinfenster und tauchte die Bibliothek in goldenes Licht.
    Yorschkrunsquarkljolnerstrink, der Elfenjunge, erwachte und reckte seine langen, sehnigen Arme.
    Der Drache schlief noch. Sein ruhiges, gleichmäßiges Schnarchen ließ die Bernsteinscheiben leise beben, wodurch das Licht an den Wänden in Schwingung geriet wie die Oberfläche eines Sees unter dem Anhauch einer leichten Brise. Der Elfenjunge stand auf und schüttelte die Myriaden von Schmetterlingen ab, die sich nachts auf ihm niederließen und ihn mit ihrer leichten Wärme zudeckten.
    Einen Augenblick lang blieb er vor den Kletterpflanzen stehen, die sich an den alten Mauerbögen hinaufrankten und voller Früchte hingen, um zu entscheiden, worauf er zum Frühstück nun eigentlich Lust hatte. Auf die feine Süße von Erdbeeren mit der entschiedenen Säure von Orangen? Nein, nicht

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