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Der letzte Elf

Titel: Der letzte Elf Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Silvana DeMari Silvana De Mari
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zum Frühstück. Besser die entschiedene Süße einer Feige mit der frischen, abgerundeten Süße von rosa Trauben. Entschieden besser. Auch farblich effektvoller. Hellrosa und Dunkelgrün passten gut zusammen. Auf dem Bernsteinteller bildete das einen hübschen Gegensatz.
    Ein Glück, dass er in einem alten Buch die Samen und die Anleitung zum Anbau von früchtetragenden Kletterpflanzen gefunden hatte. Ihr feiner, köstlicher Duft durchzog sämtliche Räume. Der Elfenjunge seufzte. Es war alles so vollkommen. So angenehm vollkommen. So tadellos vollkommen. So unvergleichlich vollkommen. Unbestreitbar vollkommen. Unausweichlich vollkommen. Blödsinnig vollkommen. Unerträglich vollkommen.
    Der Drache war ein schnarchendes Gebirge, das mit seiner Masse den ganzen riesigen Saal ausfüllte. Die grauen und rosa Schuppen bildeten komplizierte Schnörkel und Spiralen. Der Schwanz lag eingerollt wie ein Tau am Hafenkai. Der Elfenjunge ging an ihm vorbei auf das alte, mit Intarsien verzierte Holztor zu, das die Höhle verschloss. Vorsichtig öffnete er es. Ein leises Knarren ließ sich nicht vermeiden, aber der Drache schlief weiter.
    Draußen war es windig. In der Ferne am Horizont lag dunkel das Meer, weiß gesprenkelt von Gischt. Möwen flogen darüber hin. Der Junge roch die Meeresluft, die bis zu ihm drang. Er setzte sich und beobachtete die Möwen. Der Wind zerzauste ihm die Haare. Hinter ihm ragten die Schattenberge bis in die Wolken hinauf. Der Geruch des Meeres mischte sich unter den der Kiefernwälder. Der Elfenjunge schloss die Augen und stellte sich vor, er könne das Meer berühren. Seine Gischtspritzer im Gesicht spüren. Den Geschmack von Salz. Er träumte davon, Wellenkämme brechen zu sehen. Er träumte, übers Meer zu fahren, Berge zu besteigen, durch Städte zu wandern, Flüsse zu überqueren. Er träumte davon, die Erde unter den Füßen zu spüren, Schritt für Schritt, während er unterwegs war, um zu sehen, wie die Welt beschaffen war.
    Gellend zerriss die Stimme des Drachen die morgendliche Stille und dröhnte ihm in den Ohren: »Du unseliger Jüngling, wie kannst du tun ein so grausam Ding und offen stehen lassen dies Tor, dass ich erfrier, ich alter Drach, krank und schwach an all meinen rheumatischen Gliedern? Und entsinnst du dich nicht, o du Unseliger, dass bei Luftzug die Schmerzen, die meinen Kopf umklammern, noch viel ärger werden...? Du entsinnest dich also nicht, wahrhaft Unseliger, wie übel Luftzug mir bekommt, wenn er hereinfährt beim Tor und ich erfriere... Zugluft - Grabesluft...«
    Der Elfenjunge öffnete die Augen wieder. Er seufzte. Einmal, vor drei Jahren hatte er davon gesprochen, womöglich einmal die Stufen hinunterzusteigen, um das Meer aus der Nähe zu sehen. Für Hin- und Rückweg würde er einen halben Tag brauchen. Elf Tage lang hatte das Gezeter gedauert. Vor lauter Heulen und Grauen davor, womöglich verlassen zu werden, hatte der Drache eine Nebenhöhlenentzündung bekommen, die sich dann durch eine Erkrankung beider Ohren weiter kompliziert hatte, wovon überaus lästige Schwindelanfälle herrührten, die nie mehr ganz vergangen waren und an windigen Tagen schlimmer wurden. Und wenn ihn die Schwindelanfälle plagten, war es, als ob sein Magen zwischen Kehle und rechtes Ohr hinaufwanderte, manchmal auch zum linken Ohr, aber öfter war es das rechte...
    Yorsch seufzte noch einmal.
    Als Kind hatte er geschworen, dass er für ihn sorgen würde. Für den Drachen. Immer.
    Freundlich fragte er den Drachen, ob er Hunger habe.
    Es antwortete ihm ein Aufheulen aus tiefstem moralischem Schmerz. Die Frage hatte den Drachen empört. Hunger? Hunger, er? Ja, erinnerte er, der Unglückselige, sich denn nicht, dass er, der Drache, an Mundgeruch, Sodbrennen, Koller, Rülpsen, Schmerzen im zweiten, dritten und sechsten Interkostalraum rechts litt, ganz zu schweigen vom Schluckauf? Wie sollte er bei all diesen Beschwerden Hunger haben? Allein der Gedanke daran war verantwortungslos und abwegig.
    »Also willst du kein Frühstück?«, fragte Yorsch.
    Diesmal brachte das Geheul die Bernsteinfenster zum Erzittern und das Licht an der Wand wogte wie Meeresbrandung. Wie konnte er nur, mit welcher Grausamkeit, mit welcher Bosheit konnte er es wagen, ihm Fasten vorzuschlagen? Jedes Mal wenn er länger als zwei Zwölftel des Tages ohne Essen war, bekam er zwischen Magen und Speiseröhre eine Reihe von Krämpfen, als ob sich dort winzige Bläschen bildeten, ganz zu schweigen von den Stichen im

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