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Der letzte Elf

Titel: Der letzte Elf Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Silvana DeMari Silvana De Mari
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Frühling, und dann musste man von Gehöft zu Gehöft ziehen, Tiere füttern, Zäune reparieren und Kühe auf die Weide führen, aber das war eine gute Sache, denn ein Ei und ein bisschen Milch konnte man schon mal mitgehen lassen, aber man musste es geschickt anstellen, denn die Höfe gehörten alle der Grafschaft Daligar, und Diebstahl von Eigentum der Grafschaft Daligar, und sei es auch nur eines einzigen Eis, bedeutete zwanzig Stockhiebe. Sie konnten nicht zählen, aber zwanzig, das war ein Schlag für jeden Finger und jede Zehe des Kindes. Cala hatte einen Finger weniger, denn beim Holzhacken hatte sie einmal danebengezielt: Wenn sie Schläge bekam, wurde ein Schlag zusätzlich verabreicht.
    Im Sommer musste man sich vor den Flöhen und Mücken in Sicherheit bringen, aber dann war so viel zum Stehlen da, dass jeder etwas ergattern konnte, ohne sich erwischen zu lassen, auch die blödesten, die Neuankömmlinge, die, die noch weinten.
    Sie selbst war geschickt. Sie war nie erwischt worden. Im vergangenen Jahr jedenfalls nicht. Vor zwei Jahren hingegen, noch ganz neu im Waisenhaus, hatte man sie dreimal erwischt, aber da war sie noch klein gewesen. Blöd, wie kleine Kinder es eben sind. Und dann hatte sie immer Mama und Papa im Kopf gehabt. Wer ein guter Dieb sein will, muss sich auf seine Sache konzentrieren. Wenn du deinen Papa und deine Mama im Kopf hast und alles, was dein Zuhause war, dann bist du nicht bei der Sache. Auch wenn sie sich Mama und Papa aus dem Kopf zu schlagen versuchte, brauchte sie nur an ihr grün-rosa Holzbötchen zu denken oder an ihre Stoffpuppe, und sie brach in Tränen aus. Jetzt ging es besser. Jetzt konnte sie sich konzentrieren. Jetzt erwischte sie keiner mehr.
    Plötzlich überfiel sie die Erinnerung an die Äpfel ihrer Mutter mit solcher Macht, dass sie förmlich glaubte, sie zu riechen. Mama schnitt die Äpfel in Scheiben und legte sie im Holzschuppen zum Trocknen aus. Wenn Robi ein wenig davon naschte, tat Mama so, als würde sie böse, und jagte sie durch den ganzen Holzschuppen, und wenn sie sie erwischte, überhäufte sie sie mit Küssen, und die beiden lachten wie verrückt. Die getrockneten Äpfel aß Robi dann mit warmer Milch am Kaminfeuer, ihre Puppe im Arm, während es draußen in großen Flocken schneite und die Welt weiß wurde wie Gänseflügel, wenn die Sonne hindurchscheint. Abends kam dann Papa heim, mit irgendetwas wirklich Gutem zum Essen. Ihr Papa war Jäger, außerdem Bauer, Schafhirt, Apfelbaumpflanzer, Schweinezüchter, Viehhüter, Schreiner, Dachdecker, Hüttenbauer und Fischer, und er brachte immer gute Sachen zum Abendessen mit. Im Winter waren das Forellen, weil sie leicht zu fangen waren: Man hackte auf dem zugefrorenen Fluss ein Loch ins Eis und wartete ein wenig. Auch die Erinnerung an gebratene Forellen mit Rosmarin stieg in ihr auf und ihr krampfte sich der Magen zusammen. Robi verscheuchte die Erinnerung. Wenn sie jetzt erwischt wurde, gab es keine Küsse. Sie schluckte ihre Tränen hinunter. Das waren Kindereien. Sie war kein kleines Mädchen mehr.
    Die Sonne kam über den Horizont und schien ihr ins Gesicht. Die Luft erwärmte sich. Am Rand der Lichtung standen zwei große Nussbäume. Nüsse sind das ganze Jahr über gut, wenn sie in großen Säcken aufbewahrt werden, absolut köstlich aber im Frühherbst, wenn sie noch am Baum hängen, denn dann sind sie frisch: Mit den Fingernägeln zieht man die bittere Haut ab, und darunter kommt die Nuss zum Vorschein, weiß wie Gänseflügel, wenn die Sonne hindurchscheint. Die Nussbäume waren aber von den Fenstern des Stein- und Holzhauses aus, das sich oben auf dem windschiefen Waisenhaus erhob, zu sehen: Das war zu riskant. Hinter den Nussbäumen war ein Brombeergestrüpp, mit Nüssen gar nicht zu vergleichen, aber immerhin etwas. Die Brombeeren allerdings waren in Sichtweite der Soldaten, die beim Schilderhäuschen Wache standen. Freilich war es sehr wahrscheinlich, dass die Wachsoldaten um diese Zeit noch schliefen, aber das Risiko lohnte sich nicht für dieses wässrige Zeug, das einem den Magen nicht einmal so lange füllte, bis die Kratzer von den Dornen nicht mehr wehtaten.
    Robi schloss die Augen, und hinter ihren geschlossenen Lidern stieg der Traum auf, den sie, seitdem sie ihr zu Hause verloren hatte, immer träumte, sobald sie in Ruhe mit geschlossenen Augen an einem warmen Ort sein konnte. Sie sah einen Drachen vor sich und einen Prinzen mit silberblondem Haar, der auf ihm ritt: Der Drache war

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