Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Der letzte Elf

Titel: Der letzte Elf Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Silvana DeMari Silvana De Mari
Vom Netzwerk:
fünften, elften und sechsundzwanzigsten Interkostalraum links...
    Der Elfenjunge wandte ein, seines Wissens hätten Drachen nur vierundzwanzig Rippen. Der Drache fing an zu weinen, weil niemand ihn lieb hatte.
    Der Elfenjunge hockte sich auf den Boden und nahm den Kopf zwischen die Hände. Dann erinnerte er sich wieder an seinen Eid: Er würde sich um ihn kümmern, immer! Er stand auf, nahm eine Scheibe rosa Melone, zusammen mit ein paar rosa Trauben und obenauf einer Schicht rosa Erdbeeren, in der Hoffnung, dass das wirkte. Das Gejammer verstummte. Es hatte geklappt. Rosa wirkte immer. Der Wind strich durch das immer noch offen stehende Tor herein. Durch den Winkel wurde er jedoch abgeschwächt und war nur noch ein sanfter Hauch, die Windharfe, die von der Decke hing, geriet in sanfte Schwingung, und eine entzückende Musik erklang.
    Alles war verflucht vollkommen.
    Nach dem Frühstück schlief der Drache wieder ein und sein Schnarchen übertönte die Musik.
    Endlich konnte Yorsch in Ruhe lesen. Seit dreizehn Jahren war er in dieser Bibliothek praktisch eingeschlossen, zusammen mit einer Unzahl von Schmetterlingen und einem Drachen, der die Quintessenz der abgrundtiefsten Langeweile war, ganz zu schweigen von der Tatsache, dass sich sein Geist täglich mehr verdüsterte und in den unergründlichen Mäandern einer immer griesgrämigeren Zimperlichkeit verlor.
    Wenigstens konnte er lesen. Das gesamte menschliche und elfische Wissen, die Geschichte der alten Reiche, die Namen der großen Könige, die verheerende Invasion der Riesen, bis hin zu Kräuterkunde, Astronomie und Physik, alles war in der Bibliothek versammelt. Buch um Buch, Bord um Bord hatte Yorsch gelesen, studiert, geordnet und katalogisiert, Raum um Raum, von Stalaktit zu Stalaktit. Vermutlich gab es kein anderes lebendes Wesen, nicht unter Elfen und schon gar nicht unter Menschen, das auch nur von ferne an seinen Wissensstand heranreichte. Vermutlich war die Bibliothek nie, auch in ihrer fernen und glücklichen Glanzzeit nicht, als die Gelehrten so zahlreich herbeiströmten, dass man das Spucken auf den Boden verbieten musste, so gut in Schuss gewesen. Es fehlte nur noch das letzte Regal in dem kleinen Raum im äußersten südlichen Zipfel, der am weitesten vom Herzen der Bibliothek entfernt war, wo schnarchend der Drache lag. Das war ein kleiner, verwinkelter Raum, wo Stalaktiten und Stalagmiten so dicht beieinanderstanden, dass er sich kaum hindurchzwängen konnte.
    Yorsch machte sich auf den Weg dorthin und beim Gehen unter den üppig blühenden Kletterpflanzen hindurch scheuchte er ganze Schmetterlingsschwärme auf. In dem einzigen Regal standen ein Geschichtsbuch, eine der unzähligen Biografien des großen Arduin und ein Buch über Zoologie, wahrscheinlich fantastische Zoologie, denn darin war eine völlig verhungerte Kuh mit sehr langem Hals und gelben und braunen Flecken abgebildet und ein komisches graues Tier, so groß wie ein Haus und mit sehr langer Nase, mit der es sich hinter den riesigen Ohren kratzte. Dann die üblichen Bücher über elfische Astronomie, ein Text über menschliche Astrologie und ein uraltes, vermodertes Pergament, das vom Schimmel zu einem einzigen, unlesbaren Klumpen verklebt war, sodass es sich nicht einmal mehr aufrollen ließ. In seinen dreizehn Jahren als Bibliothekar war Yorsch Experte im Restaurieren alter Pergamentrollen geworden. Dazu brauchte man Zeit, Dampf und Mandelöl. Von allem hatte er reichlich: Die Dämpfe eines Vulkans beheizten die Bibliothek, süße Mandeln wuchsen im Westtrakt, und Zeit hatte er so viel, dass er nicht wusste, was damit anfangen, und alles, was sie ausfüllen half, war willkommen und ein Segen. Yorsch fragte sich, wie er jetzt, da alles Lesbare gelesen, alles Studierbare studiert und alles Archivierbare archiviert war, seine Tage herumbringen sollte, ohne in Trübsinn zu verfallen. Es gab Tage, da musste er sich hüten, an den Jäger und die Frau zu denken. Wer weiß, ob sie noch am Leben waren, bestimmt hatten sie geheiratet! Vielleicht hatten sie Kinder und womöglich hatten sie ihnen von ihm erzählt. Vielleicht warteten sie, bis die Kinder groß waren, bevor sie auf die Reise gingen, um ihn besuchen zu kommen. Vielleicht durften sie niemandem sagen, dass sie einen echten Elfen kennengelernt hatten, und es wäre zu gefährlich herzukommen. Vielleicht würde er nie mehr etwas von ihnen hören.
    Er durfte nicht daran denken. Es tat zu weh.
    Der Elfenjunge machte sich ans Werk.

Weitere Kostenlose Bücher