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Der letzte Engel (German Edition)

Der letzte Engel (German Edition)

Titel: Der letzte Engel (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Zoran Drvenkar
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ihnen sagte, dass es zu spät war. Sie wussten, was das Gefühl zu bedeuten hatte – ihre Mutter war nicht mehr am Leben.
    Sie begruben die Toten. Sie hinterließen keine Markierungen und verwischten die Spuren sorgfältig. Nichts erinnerte mehr an die Bewohner. Nur die Leiche ihrer Mutter nahmen sie mit.
    Stella wurde auf dem kleinen Friedhof hundert Meter vom Hof entfernt beerdigt. Ihre Söhne sprachen nicht. Sie standen am Grab und sprachen kein einziges Wort, während die Sonne in ihrem Rücken aufging. Die Scham war zu groß. Sie hatten versagt und konnten es nicht wiedergutmachen. Dafür gab es keine Worte. Die Zeit hatte sie eingelullt. Sie hätten bereit sein müssen. Nichts machte an diesem Tag noch Sinn.
    Großmutter O’Niven hatte sich in der Zwischenzeit um die Gouvernante und ihre Platzwunde gekümmert. Sie war mit Mona auf den Dachboden gestiegen und zusammen hatte sie eine Kleidertruhe durchkramt. Mona bekam eine alte Schuluniform und eine Jacke, die Stella gehört hatte, als sie in Monas Alter gewesen war. Der Rock war zu weit, und Mona musste ihn mit einem Gürtel festzurren, die Schuhe dagegen passten genau. Nachdem sie Tee und Brote gemacht hatte, wollte Großmutter O’Niven ihnen ein Zimmer herrichten, aber Ennis erklärte, das wäre ein Fehler.
    »Wir können hier nicht bleiben«, sagte sie.
    Mona senkte den Kopf, als sie das hörte. Die toten Mädchen hatten es ihr schon verraten. Sie hatten Mona und Ennis bis zum Hof begleitet, das Gebäude selbst konnten sie nicht betreten. Jetzt schauten die Mädchen durch die Fenster und kratzten am Glas und klopften an die Tür und wollten, dass es weiterging. Wir können hier nicht bleiben, wiederholten sie Ennis’ Worte. Mona wusste, dass sie niemand außer ihr hören und sehen konnte. Die toten Mädchen waren ihre ganz eigene Last. Mona störte das nicht wirklich, es war besser, als sie ganz zu verlieren, dennoch wünschte sie sich, ihre Schwestern würden für einen Moment still sein. Ennis’ Worte ließen sie nicht los. Mona fühlte sich verloren. Verschwunden war die Kriegerin, die es mit dem Söldner aufgenommen hatte, zurückgeblieben war ein zehnjähriges Mädchen, das ihr Zuhause vermisste.
    Ennis legte den Arm um sie und so saßen sie für eine Weile und hatten beide nichts zu sagen.
    Die O’Nivens bewahrten die Papiere für jeden Bewohner des Hauses auf. Der Hof war ihre Anlaufstation in der Not, und das Archiv war der wahre Hafen, aber um dorthinzukommen, brauchten sie die Papiere.
    Kevin überreichte der Gouvernante und dem Mädchen ihre Ausweise und Bargeld für die nächsten Tage. Mona sah zum ersten Mal in ihrem Leben ihren Nachnamen. Breech. Sie erinnerte sich nicht, wann das Foto gemacht worden war. Sie hatte längeres Haar und ihr Gesicht war voller.
    »Weißt du die Adresse?«, fragte Kevin.
    Ennis nickte, sie kannte die Telefonnummer und Adresse des Archivs auswendig. Es war eine der ersten Aufgaben der Gouvernanten. Sie erfuhren die Adresse am Tag, an dem sie neunzehn wurden. Sie lernten sie auswendig und auch, wie sie vom Haus der Kormorane dorthinkamen. Jede einzelne Station. Das Archiv war immer bereit, sie aufzunehmen.
    Kevin gab Ennis einen Zettel, auf dem sich der Zugangscode für das Archiv befand. Ennis kannte die Regeln. Sie verstaute Geld und Ausweise in ihrer Jacke, sah auf den Zugangscode und merkte ihn sich. Der Zettel blieb auf dem Tisch liegen. Kevin reichte Ennis ein Handy.
    »Es ist mit vierzig Euro aufgeladen«, sagte er.
    »Danke.«
    »Uns könnt ihr nicht anrufen«, erinnerte er sie.
    »Wir kennen eure Nummer nicht einmal«, sagte Ennis.
    »Gut so, fahren wir.«
    Während Kevin sie nach Dublin fuhr, trug sein Bruder die Mappe mit den übrigen Ausweisen nach draußen zum Grill, und dort ging die Vergangenheit des Hauses ein zweites Mal in Flammen auf.
    Von Dublin aus setzten Mona und Ennis mit der Fähre nach Holyhead über und nahmen den Zug nach Edinburgh. Auf der Fahrt erzählte Mona, wie sie vor vier Tagen Jasmins Erinnerung berührt hatte und auch von ihrem Gespräch mit der Hausherrin am nächsten Morgen.
    »Und du machst das einfach so?«, fragte Ennis.
    »Ich mach das einfach so«, sagte Mona. »Möchtest du, dass ich es dir zeige?«
    Ennis schüttelte den Kopf. Den Rest der Fahrt sah sie aus dem Fenster und dachte nach.
    Als sie am späten Nachmittag in Edinburgh ankamen, glühte die Stadt in der Sommerhitze und war von Touristen überflutet. Die toten Mädchen erwarteten Mona am Gleis, sie standen

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