Der letzte Engel (German Edition)
aufgeteilt worden. Der größere Wagen kam mit der Fähre, die zur gleichen Zeit abgelegt hatte, als Tulli und Cedric Dublin verließen. Sie hatten die Landroute gewählt und fuhren jetzt auf der N71. Weit und breit gab es keinen Verkehr. Niemand ist morgens um zwei im Süden von Irland unterwegs.
Cedric fuhr entspannt, er hatte eine Hand am Lenkrad, die andere lag um seinen Kaffeebecher. Er war der Einzige im Team, der schon mal für Lazar gearbeitet hatte. Cedric erzählte gerne. Von ihm kannte Tulli die Geschichten über Lazar und Leopold, über die Häuser am Meer und die Jungen. Dabei waren die Jungen nie das Problem, es waren die Männer, die sie beschützten. Cedric nannte sie die Hüter.
»Hüter?«
»Einfach nur Hüter.«
»Und woher kommt nach vierzehn Jahren plötzlich dieses neue Haus?«
»Keine Ahnung.«
Cedric lachte.
»Es ist wie aus dem Nichts auf dem Radar aufgetaucht. Nenn es Magie oder wie auch immer du willst. Mehr weiß ich auch nicht.«
»Und die Mädchen?«
Cedric hob die Schulter und sah zu Tulli rüber.
»Ich stelle Lazar nie infrage. Wir tun hier Gutes, verstehst du? Nur das zählt.«
Tulli nickte und glaubte ihm kein Wort.
»Ich weiß, du glaubst mir nicht«, sagte Cedric. »Aber wenn Lazar sagt, dass –«
Mona blinzelte, sie hatte die Hand noch immer auf Tullis Arm, aber die Verbindung existierte nicht mehr. Tullis Augen waren geschlossen, die Sandkörner vor seinem Mund lagen still. Mona stand auf. Die Furcht ergriff sie wie aus dem Nichts. Sie wollte davonrennen, sie wollte zwischen den Klippen verschwinden und sich verstecken. Ein Gedanke hielt sie zurück.
Überlege erst, was du als Nächstes tust .
Mona sah auf die Leiche des Söldners. Der Gedanke verwirrte sie. Seitdem sie von den Toten zurückgekehrt war, hatte sich etwas in ihrem Inneren verändert. Da war plötzlich ein Instinkt, der sie führte und leitete und zu ihr sprach. Es war derselbe Instinkt, der Tulli Marsden das Knie gebrochen und ihn entwaffnet hatte. Mona fragte sich, was sie als Nächstes tun sollte. Sie lauschte in sich hinein und wartete auf eine Antwort.
Es wird Zeit, dass du dich versteckst, sagte der Instinkt.
Mona war den Kormoranen so nahe, dass Jasmin sie beneidet hätte. Sie war zu den Klippen runtergestiegen und hatte eine geschützte Stelle gefunden. Jetzt stand sie auf einem Felsvorsprung, der einen Meter unter Wasser lag. Die Nester waren direkt über ihr. Mona hielt sich mit nach oben gestreckten Armen am rauen Stein fest, damit die Strömung sie nicht aufs Meer hinauszog.
Und da stand sie und wartete.
Die Söldner kamen nach zehn Minuten.
Mona hörte ihre Verwünschungen, als sie Tullis Leiche fanden, sie hörte ihre Schritte und schreckte zurück, als sich ihre Schatten über die Klippen bewegten.
Es fühlte sich an wie ein ganzer Tag.
Und dann gingen die Söldner wieder.
Mona blieb, wo sie war. Sie wartete, bis der Mond über dem Meer stand, erst dann wagte sie sich wieder an Land. Sie war nass, durchgefroren und hungrig. Sie rieb ihre Waden, die von der Kälte verkrampft waren, und wimmerte erleichtert, als sich die Muskeln entspannten.
Tulli Marsden lag nicht mehr im Sand.
Auch Jasmins Leiche war von den Stufen verschwunden.
Mona stieg die Steinstufen hoch und sah, was von ihrem Zuhause übrig geblieben war. Für Minuten stand sie reglos in ihrem nassen Schlafanzug vor der Ruine und dachte nach. Ihr Kopf war voller Namen und Gesichter. Cedric, Lazar, Patrick. Jeder, an den Tulli in der kurzen Zeit gedacht hatte, war abgespeichert. Desser, Cipoto, Tullis Eltern Anna und Conrad, Jost, Leopold. Mona wusste auch, dass es andere Häuser gegeben hatte. Häuser mit Jungen. Mit Jungen und Hütern.
Wir Mädchen waren eine Ausnahme, dachte sie.
Mona zog die Nase hoch und wischte sich die Tränen an ihrem nassen Ärmel ab. Vorsichtig näherte sie sich den Überresten ihres Zuhauses. Der Boden zu ihren Füßen war Asche und noch angenehm warm. Ein Teil der Wände stand noch, das Obergeschoss dagegen war vollkommen zerstört.
Die Mädchen erwarteten sie in der Küche. Sie hockten in einem Kreis um einen qualmenden Aschehaufen und hatten die Handflächen vorgestreckt, als würden sie sich daran wärmen. Die Gouvernanten waren nirgends zu sehen. Die Mädchen saßen auf ihren Fersen und trugen noch immer ihre Schlafanzüge. Jasmin war eine von ihnen.
Nur ich fehle, dachte Mona und fror plötzlich nicht mehr, denn da waren ihre Schwestern, und nichts war mehr schlimm, und alles war
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