Der letzte Engel (German Edition)
fragte Mona.
»Natürlich bin ich mir sicher, ich bin eine Gouvernante. Die Familie würde vor uns keine Geheimnisse haben. Wieso sollten sie so etwas wie ein Haus mit Jungen vor uns verbergen?«
Mona antwortete nicht. Ihr neuer Instinkt hielt sie zurück und wollte nicht von Tulli Marsdens Tod erzählen – oder davon, was sie aus seiner Erinnerung erfahren hatte. Ennis glaubte daran und Mona hatte das Gefühl, es wäre ein Fehler, ihr diesen Glauben zu nehmen.
Nachdem Ennis den Code eingegeben hatte, summte das Türschloss und sie betraten das Treppenhaus. Er war kühl und überraschend still. Es roch nach Reinigungsmitteln und frischem Kaffee. Auf dem Weg nach oben hörten sie hinter einer der Türen ein Radio laufen. Sie stiegen die Stufen weiter hoch und blieben im dritten Stockwerk vor einer gläsernen Doppeltür stehen. Auf dem Milchglas stand in Goldprägung:
Daarson & Pierce
Serving the Family
Since 1840
Ennis klingelte und wartete, dass ihnen aufgemacht wurde. Mona sah zu ihr auf, Ennis nahm ihre Hand und drückte sie, Mona drückte zurück, während auf der Straße vor dem Haus drei Männer in einem geparkten Kombi ihre Waffen prüften, einen Uhrenvergleich machten und geduldig auf den Befehl warteten, um der Gouvernante und dem Mädchen in die Nummer 45 zu folgen.
DER BEGLEITER
E r sitzt auf der Parkbank und ist der größte Verräter aller Zeiten. Er versteht nicht, wie er Motte allein lassen konnte. Da liegt sein Kumpel tot im Bett, und gleichzeitig steht sein Kumpel als Engel daneben, und was macht er? Er lässt ihn allein.
Mann, ich bin so eine Pfeife.
Lars starrt den Weg runter. Er wartet, dass Motte kommt. Oder dass Gott vom Himmel runtersteigt und zugibt, dass er Mist gebaut hat.
Oder so.
Lars überlegt auch, ob er zurückgehen sollte.
Er steht auf und tritt einmal wütend gegen die Parkbank.
Alles, aber auch wirklich alles spricht dagegen. Er sieht es vor sich: Lars, der an der Tür klingelt. Mottes Vater, der die Tür aufmacht. Lars, der sagt: Hallo, ich bin wieder da. Mottes Vater, der ihn am Kragen packt und ins Haus zerrt und dann hoch zu Mottes Leiche. Lars, der sagt: Ich habe damit nichts zu tun, geschworen! Mottes Vater, der die Polizei ruft, weil Lars der Letzte war, der bei Motte rumgehangen hat. Sense.
Mathematik, denkt Lars, das ist einfache Mathematik. Dafür gibt es mindestens zehn Jahre Jugendknast, und wenn ich rauskomme, bin ich Rentner und keiner kennt mich mehr.
Sein Handy klingelt.
Es ist seine Schwester.
Sie fragt, wo er bleibt.
»Was?«
»Es ist Samstag, du Hirnschiss, und es ist sieben Uhr. Wir sitzen am Tisch und warten mit dem Essen auf dich.«
»Ich …«
Lars fällt keine Ausrede ein. Die Zeit ist ihm entglitten. Er schaut hoch. Es sieht aus wie früher Nachmittag. Der Himmel ist in lauter Fetzen gerissen und erinnert an das verwaschene Batikshirt, das Fanni letzte Woche getragen hat. Lars weiß noch genau, wie es sich angehört hat, als er es über Fannis Kopf zog. Das Shirt hat geknistert. Und Fanni bekam eine Gänsehaut, alle Härchen auf ihren Armen standen hoch, und als er sie auf den Nacken küsste, hat sie ganz leise gestöhnt und sich an ihn gedrückt und Lars hat –
»Bist du noch dran, oder was?«
»Klar bin ich noch dran«, murmelt Lars. »Ich komme gleich.«
»Gleich wie in sofort ?«, fragt seine Schwester nach.
»Nicki, du bist zwei Jahre jünger als ich, also geh mir nicht auf den Sack.«
»Lars, ich bin zwei Jahre jünger als du, gerade deswegen gehe ich dir auf den Sack.«
»Oh Mann.«
»Wo bist du jetzt?«
»Im Park.«
»Dann renn mal.«
Sie unterbricht die Verbindung. Lars schaut den Weg runter. Wieso fühle ich mich plötzlich so dämlich?, fragt er sich und kennt die Antwort: Der größte Verräter aller Zeiten weiß nicht weiter. Should I stay or should I go, denkt er und erinnert sich, wie ihm Motte das Leben gerettet hat. Hier auf diesem Spielplatz, auf dieser Bank. Und was tut er?
»Ich renn weg«, sagt Lars leise, aber die Worte sind raus, und er fühlt sich saudämlich.
Es war im letzten Herbst. Motte und Lars saßen im Park und warteten auf Fanni und Rike. Es waren die Anfänge. Keine Küsse, keine nackte Haut, keine geheimen Nächte. Dafür Blicke und Witze. Es war ein vorsichtiges Herantasten. Sie kannten sich seit vier Jahren und entdeckten sich jeden Tag neu. Schließlich hatte jeder seinem Mädchen eine ganz spezielle CD gebrannt, und als die Mädchen fragten, was die Jungs dafür haben wollten, sagte
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