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Der letzte Engel (German Edition)

Der letzte Engel (German Edition)

Titel: Der letzte Engel (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Zoran Drvenkar
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ordentlich in einer Reihe und wurden von den Sonnenstrahlen durchleuchtet. Sie konnten Mona nicht ablenken. Mona hatte mit allem gerechnet, nur nicht damit.
    Es war zu viel.
    Die Menschen, der Lärm, die unermüdliche Bewegung und das Fehlen von Ruhe. Mona hatte Großstädte in Filmen gesehen, aber das waren eben nur Filme. Die Fahrt mit der Fähre war ein Abenteuer gewesen, aber der Hauptbahnhof und die Menschenmenge in Edinburgh waren einfach zu viel für sie. Mona war nicht darauf vorbereitet, diese Energie zu spüren.
    Die toten Mädchen versuchten, sie zu beruhigen, Mona schüttelte den Kopf. Sie wollte tapfer sein und erstarrte ungewollt, als sie vor dem Bahnhofsausgang ankamen. Leute schoben sich an ihnen vorbei, stießen sie an und liefen weiter. Ennis stellte sich hinter Mona und wartete geduldig. Sie wusste, was hier geschah. Als Ennis mit vierundzwanzig Jahren das erste Mal das Grundstück verlassen hatte, um in Cork einen Zahnarzt aufzusuchen, hatte sie dasselbe durchgemacht.
    »Es wird nicht schlimmer«, beruhigte sie Mona.
    Was natürlich eine Lüge war. Sie verließen den Bahnhof und da war der Verkehr. Mona drückte sich an Ennis’ Seite, sie hatte die Schultern hochgezogen und den Kopf gesenkt. Sie schwitzte und wollte zurück in den Bahnhof. Ennis führte sie in den nahe liegenden Park. Sie setzten sich auf eine Bank und entzogen sich den Menschen und dem Lärm.
    »Mir ist schlecht«, sagte Mona und beugte sich vor, den Kopf zwischen den Beinen, den Mund voller Speichel. Ennis holte eine Flasche Wasser, und so warteten sie auf der Parkbank, dass die Übelkeit verging.
    »Weißt du, warum sie alle sterben mussten?«, fragte Mona nach einer Weile.
    Ennis strich ihr über die Haare und sagte, sie solle sich keine Sorgen machen, es würde alles wieder gut werden. Dabei wich sie Monas Blick aus. Mona schaute hoch zu den toten Mädchen, die über ihr im Baum saßen und die Beine baumeln ließen. Kein Wort musste zwischen ihnen gewechselt werden. Auch die Mädchen wussten Bescheid.
    »Es ist wegen mir, nicht wahr?«, sagte Mona.
    Endlich sah Ennis sie an. Ein wenig erschrocken, ein wenig ertappt.
    »Die Familie hat sehr lange darauf gewartet, dass die Gabe in einer von uns zutage tritt«, sagte sie. »Wir sind alle besonders gewesen, Mona, aber keine von uns kann das, was du kannst. Es war den Preis wert. Du bist das Erbe, du bist unsere Hoffnung.«
    Sie wollte ihre Hand nehmen, Mona zog sie weg.
    »Wir alle waren das Erbe«, sagte sie. »Und jetzt sind sie alle tot, weil ich Erinnerungen berühren kann. Das ist nicht fair.«
    »Das hat nichts mit Fairness zu tun. Es ist eine Gabe, Mona, und es ist nicht deine Schuld, dass du sie hast.«
    »Aber es ist wegen mir, dass die Männer da waren.«
    Ennis nickte.
    »Also ist es meine Schuld. Sag nicht, das wäre nicht so!«
    Ennis beugte sich vor, schloss ihre Hände um Monas und sagte ehrlich:
    »Mit diesem Tag bist du kein Kind mehr, Mona, du bist das alleinige Erbe, also hör auf, dich wie ein Kind zu benehmen. Mit diesem Tag lässt du alles hinter dir und fängst ein neues Leben an. Jeder, der deinetwegen gestorben ist, hat es mit bewusstem Herzen getan. Sie alle verzeihen dir, wie auch ich dir verzeihe.«
    Mona sah aus den Augenwinkeln, dass die Bewegung über ihrem Kopf aufgehört hatte. Sie schaute hoch, die toten Mädchen baumelten nicht mehr mit den Beinen. Sie erwiderten Monas Blick und sagten: Hör auf, so zu gucken, natürlich verzeihen wir dir.
    Das Archiv lag wenige Minuten von den Queen Street Gardens entfernt in der Culmer Street 45. Es war ein altes Sandsteingebäude mit drei Stockwerken und winzigen Balkonen, auf denen sich selbst eine Topfpflanze unwohl gefühlt hätte.
    Auf der Klingelanlage gab es ein Tastenfeld und vier Namen.
    Im ersten Stock war eine Maklerfirma, das zweite Stockwerk teilten sich eine Spedition und ein Kunstbuchverlag, das dritte Stockwerk gehörte der Familie allein.
    Auf dem Klingelschild stand Daarson & Pierce.
    Mona wusste von Ennis, dass im Archiv alle Informationen über die Familie gesammelt wurden. Fotos, Logbücher, Kontakte. Sie war sehr aufgeregt, denn sie wollte wissen, woher sie kam, wie die Namen ihrer Eltern waren und ob sie noch Verwandte hatte. Ennis hatte ihr versprochen, dass das Archiv alle ihre Fragen beantworten würde. Nur als Mona wissen wollte, wo denn die Häuser mit den Jungen zu finden waren, runzelte Ennis die Stirn und sagte, solche Häuser würde es nicht geben.
    »Bist du dir sicher?«,

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