Der letzte Engel (German Edition)
war.
Und so kam es, dass ihm Motte das Leben gerettet hatte.
Und jetzt im Park, ein knappes Jahr später, begreift Lars, dass Erinnerungen manchmal dafür da sind, uns ins Gedächtnis zu rufen, wer wir eigentlich sind.
»Scheiß drauf«, sagt Lars und wählt Mottes Nummer.
Nach dem zweiten Klingeln bricht die Verbindung ab. Lars wählt erneut, und ihm wird gesagt, dass der Teilnehmer nicht zu erreichen ist. Er steckt das Handy weg. Er denkt nicht mehr daran, nach Hause zu gehen. Er denkt: Warte noch ein paar Minuten, Motte wird gleich kommen und dann …
Eine Explosion erschüttert die Gegend, eine Elster fliegt meckernd auf und die Autosirenen erwachen wie eine Truppe von blechernen Clowns. Lars sieht durch die Baumkronen hindurch eine Rauchsäule dem Himmel entgegensteigen. Er steht unschlüssig vor der Parkbank und denkt ernsthaft darüber nach, schon wieder wegzulaufen. Er ist bereits drei Schritte zurückgewichen, als sein Ego ausholt und ihm eine scheuert und ihn schüttelt und fragt, ob er denn vollkommen ohne Ehre und Würde wäre. Lars ist nicht vollkommen ohne Ehre und Würde. Deswegen entschuldigt er sich bei seinem Ego und rennt auf die Explosion zu.
ESKO
N atürlich kommen sie zu spät. Esko hat so eine Ahnung, als sie zwei Straßen entfernt sind und er die Flocken in der Luft schweben sieht. Erst denkt er an Schnee, dann landet die Asche auf der Windschutzscheibe.
»Wir sind zu spät«, sagt er.
Die toten Mädchen führen sie bis zur ersten Absperrung, ein Polizist winkt sie weg. Esko wendet und stellt den Wagen zwei Straßen entfernt an einem Park ab. Ein Krankenwagen ohne Sirene fährt an ihnen vorbei, Leute stehen auf dem Gehweg und in den Vorgärten, sie reden halblaut miteinander, schütteln die Köpfe und sind erleichert, dass ihr Haus noch steht. Esko und Mona schieben sich bis zur zweiten Absperrung vor. Sie hören das Plätschern von Wasser, als würde es im Inneren des Hauses regnen. Die Feuerwehr ist dabei, ihre Ausrüstung einzupacken. Es steigen nur noch vereinzelt dünne Rauchschwaden aus den Fenstern. Zwei Polizisten unterhalten sich, während ein dritter in sein Handy spricht und sich dabei das andere Ohr zuhält. An der zweiten Absperrung stehen vielleicht dreißig Leute und warten, als würde jeden Moment ein Filmstar die Ruine verlassen.
Esko schaut sich um, er schaut in die Bäume, aber der Rabe ist nirgends zu sehen. Als er sich zwischen den Leuten durchschieben will, fängt er den Geruch auf.
»Ich rieche ihn«, sagt er zu Mona.
Esko erwartet, den Engel neben dem Haus stehen zu sehen, verwirrt und allein und unsichtbar für normale Augen. Er stellt sich vor, wie es dem armen Kerl im Moment geht. Niemand will in der Nacht einschlafen und als Engel aufwachen. Wirklich niemand.
Niemals wird er uns das verzeihen, denkt sich Esko, während er mit Mona an der Absperrung entlanggeht.
Der Junge hat sich auf die Stoßstange eines geparkten Autos gestellt, um besser sehen zu können. Er ist einen halben Kopf größer als Mona, was wirklich nicht viel ist für einen Jungen, der sechzehn sein soll.
»He«, sagt Esko.
Der Junge sieht ihn an. Seine Hände haben einen sanften Schimmer, als hätte er sie in Phosphor getaucht. Daher kommt der Geruch, denkt Esko enttäuscht und sagt:
»Du hast seine Flügel berührt.«
Der Junge bekommt einen panischen Blick, er steigt von der Stoßstange und weiß nicht, wie er reagieren soll – rennen oder dableiben. Dann hebt er beide Hände, als wolle er Mona und Esko davon abhalten, dass sie näher kommen.
Oder als würde er aufgeben, denkt Esko.
»Ich hau nicht wieder ab«, verspricht der Junge.
»Niemand hat das erwartet«, sagt Esko.
Der Junge senkt die Stimme.
»Ihr wisst also, was Motte passiert ist?«
»Deswegen sind wir hier«, sagt Esko und kann sich nur schwer auf den Jungen konzentrieren. Seine Augen suchen die Gefahr. Er spürt sie. Die Luft ist gesättigt mit ihr.
Wir werden beobachtet .
»So eine Scheiße«, sagt der Junge plötzlich. »Ich habe ihn im Stich gelassen, ich habe meinen besten Kumpel im Stich gelassen und jetzt hat er sich selbst gegrillt.«
»Er kann nicht verbrennen«, beruhigt ihn Esko.
»Echt nicht?«
»Ganz sicher nicht.«
»Aber …«
Er schaut sich um.
»… wo ist er dann?«
Gute Frage, denkt Esko, als Mona dem Jungen auch schon die Hand entgegenstreckt.
»Lass uns irgendwohin gehen, wo wir reden können.«
Der Junge zögert nicht. Er ist ein Sechzehnjähriger, der von einer Zehnjährigen an
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