Der letzte Grieche
oder fünf Jahren, die sie an dem Schaufenster lehnte, keinen Käufer gefunden hatte. In dem Kaffeehaus am Marktplatz wischte ein Kellner die Tische mit einem Lappen sauber. Unter der Markise an der Tür saß, ein Bein über das andere geschlagen, ein älterer Herr. Auf seinem Schoß lag O Neochorítis , geknickt und angewinkelt. Bezüglich der Größe sah die Zeitung aus wie ein Fahrplan.
Jannis kaufte sich eine Brezel, die er vor der Bäckerei stehend aß. Dann ging er zur Apotheke, aber sie war noch geschlossen. Aus verschiedenen Gründen war er nervös, weshalb er zu dem Lokal zurückkehrte. Der Zeitungsleser saß noch an seinem Platz. Als der Kellner kam, bestellte Jannis ein U-Boot, was er nicht beabsichtigt hatte, bevor er gefragt wurde. Er zog die Einberufung aus der Tasche, wusste nicht, wie oft er das schon getan hatte, und musterte die Stempel. Der Kellner bekam sein Geld und begann, die Stühle gerade zu rücken. Jannis führte den Löffel zum Mund, wo die weiße Masse weich wurde und sich mit Speichel vermischte. Es zog in den Zähnen. Er wusste nicht mehr, wo oder wann er davon gehört hatte, aber es hieß, der Kellner habe einen Vater, der seine Familie verlassen hatte, als er erfuhr, dass der Sohn ein uneheliches Kind war. Seither hatte man nichts mehr von ihm gehört. Es ging das Gerücht, die wieder verheiratete Mutter, die während des Kriegs sexuelle Dienste gegen Lebensmittel getauscht hatte, nehme inzwischen Hormone. Jannis überlegte, wie alt eine Frau werden konnte, ehe sie aufhörte zu gebären. Fünfundvierzig? Fünfzig? Konnte sie mit Hilfe von Hormonen vielleicht noch Kinder bekommen, auch wenn sie schon zahnlos, schwarz gekleidet, vergessen war?
Um halb zehn betrat er die Gendarmerie. Die Uniform des Mannes hinter dem Tresen war um die Schulter mit einem geflochtenen Silberband besetzt. Er hieß Dimitris Lekkas und war einmal der beste Fußballspieler von Neochóri gewesen. »Du hast dir Zeit gelassen …« Jannis zuckte mit den Schultern. Der Gendarm studierte mit der Sorgfalt des Begriffsstutzigen diverse Dokumente, dann verschwand er im Hinterzimmer. Er wackelte noch immer mit den Hüften. Es vergingen zwei Minuten, es vergingen zehn. Am Eingang saß eine Frau, die den Besucher mit leeren Augen anstierte. Die Finger auf ihrem Stock zitterten, als erinnerte sie sich an ein Klavierstück. Als Jannis grüßte, blinzelte sie nur. Der frühere Schulkamerad kehrte zurück und sagte etwas, was den Besucher erkennen ließ, dass die Frau seine Mutter sein musste. Durch die Tür sah man einen Mann hinter Stapeln von Mappen. An der Wand hing ein Foto des Königs. Gegenwärtig ruhte ein Streifen kalter Sonne auf seinem Gesicht.
»Warum kommst du erst jetzt?« Der Mann blickte nicht auf, als der angehende Soldat eintrat. Jannis erzählte von dem Stall, den er gebaut hatte. »Wenn das Vaterland ruft, kommt man sofort.« Er erklärte, die Arbeit sei hart und das Wetter ungünstig gewesen, vermied es jedoch zu fragen, wie man sich irgendwo einfinden konnte, wenn man unfähig war, die Einberufung zu lesen – oder zu sagen, dass er sich geschworen hatte, dieses Dorf nie wieder zu betreten. »Stürme, Felder, Schuppen … Hast du noch mehr Entschuldigungen auf Lager? Wie wäre es mit Schwindsucht? Syphilis? Einem Trauerfall in der Familie?« Der Mann suchte nach seinen Zigaretten. An der Decke klebte ein untätiger Ventilator, an der Wand hingen ein Holzkreuz und eine Ikone.
Jannis wurde immer übler. Der Gendarm steckte sich eine an. »Georgiadis, Ioannis. Du hättest längst hier sein sollen.« Seine Stimme verhärtete sich. »Wenn du nicht gekommen wärst, hätten wir die Geheimpolizei geschickt.« Rauch kringelte aus seiner Nase. Dann drückte er die Zigarette überraschend aus und stempelte einige Papiere. Als er aufblickte, verwandelte sich die Vanille in Jannis’ Bauch in schepperndes Blech. Gleich würde er sich übergeben. Aber der Gendarm sagte nur: »Sei froh, dass du Tsoulas kennst. Sonst hätten wir dich in einen zweijährigen Urlaub in Uniform geschickt.«
ROTES LICHT . Nach der Gendarmerie kehrte Jannis zur Apotheke zurück. Er kaufte eine Flasche 4711 für seine Großmutter und verblüffte sich selbst mit der Frage, ob man etwas von Efi in Schweden gehört habe. Da das Personal den Kopf schüttelte, beschloss er, Karamella zu konsultieren. Vermutlich ergab sich sein Entschluss aus der eigentümlichen Leichtigkeit, die ihn erfüllte, als er erkannte, dass man ihn von der Wehrpflicht
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