Der letzte Grieche
etwas, das einer Schriftrolle glich, unter dem Arm, auf der anderen einen Mann in hellen Knickerbockern und dunklen Schlittschuhen mit hohen Stiefelschäften. Er setzte unter freiem Himmel zu einer Ewigkeitsbewegung in Form einer Acht an. »Das Bild wurde in Davos aufgenommen«, erläuterte die Gastgeberin. Als Jannis’ Augen weiterwanderten, erkannte er, dass es in dem Raum keine einzige Ikone gab. Neben einem Tisch mit einem Spitzendeckchen lag ein Überseekoffer mit rissigen Lederriemen. Zwei Stühle flankierten ein emailliertes Gefäß auf einem Dreifuß aus Holz. Neben der Petroleumlampe im Fenster entdeckte er ein weiteres Foto: Darauf sah man eine junge Frau, von Fahrrädern umgeben. Aus unerklärlichen Gründen fühlte er sich ertappt. Während er seine lehmverschmierten Schuhe betrachtete, spürte er seine Kräfte versiegen. Hatten sie zuvor ein U-Boot geformt, kehrten sie nunmehr in den Bauch zurück, wo sie ausflockten und sich in eine flaumige Wolke verwandelten. Er suchte nach der Tüte aus der Apotheke. »Tut mir leid. Ich muss gehen.«
»Das hat sie auch gesagt …« Karamella, die seinen Rundgang verfolgt hatte, studierte das letzte Foto. »Ich habe Despina oft besucht, als ihr Junge klein war. Also dein Vater. Er konnte singen wie kein anderer. Tausend Zikaden in diesem Kebab.« Die Frau hielt inne. »Kaum zu glauben, was? Aber ich bin auch mal jung gewesen.« Sie betrachtete Jannis, dem gleichzeitig heiß und kalt war. Sein Vater? »Nach der Flucht kam er regelmäßig vorbei, um mich um Erinnerungen zu bitten, die er seiner Mutter erzählen konnte. Manchmal gab ich ihm sogar Sachen, die ich gesammelt hatte. Weißt du, der eine Gast zahlt vielleicht lieber mit einer Uhr, der nächste mit einer Posttasche. Das Leben ist voller wertvoller Gegenstände.« Sie zeigte auf die Dinge im Raum. »Es gefällt mir, sie Bedürftigen zu schenken.« Sie setzte sich. »Dein Vater war sogar am Tage seines Todes hier. Wäre er doch nur ein bisschen länger geblieben. Aber nein, als bei Stefanopoulos das Feuer ausbrach, musste er gehen. ›Nicht noch ein Brand‹, hat er gesagt.« Karamella zog den Morgenmantel zu. »Schau nicht so erschrocken. Auch deine Großmutter ist hier gewesen. Wenn sie nicht schlafen konnte, kam sie mit dem Fahrrad. Aber nachdem die Hasenscharte gestorben war, fehlte ihr dazu die Kraft. Wie geht es ihr?«
Als Jannis nicht in der Lage war, ihr zu antworten, strich die Madame des Dorfs über die Decke. »Despina wollte vor allem über alte Zeiten sprechen. Wir haben uns stundenlang unterhalten. Aber wenn der Morgen graute, sagte sie jedesmal: ›Jetzt muss ich gehen. Wirklich, sonst wird es übel enden.‹ Schließlich habe ich sie gefragt, ob sie glaubte, sie wäre ein Vampir. Weißt du, was sie mir geantwortet hat?« Die Frau betrachtete ihren Besucher mit einer Mütterlichkeit, die so gar nicht zu dem passte, was er mit dem Rücklicht verband. »›Wenn sie und sie und er und er wieder unter uns wären‹, sagte sie und zeigte zu den Bildern hin, ›hätte ich nichts dagegen.‹ Bevor ich das gehört habe, dachte ich wie Vembas: Die Lebenden müssen die Toten retten. Das habe ich immer gesagt: Die Lebenden müssen die Toten retten. Doch deine Großmutter brachte mich auf die Frage, ob es nicht eher umgekehrt ist. Ernähren wir uns möglicherweise von den Toten?«
Der Besucher ging zur Tür. Seine Schuhe erschienen ihm schwerer als je zuvor, als hätten sie Bleisohlen. Karamella erkundigte sich, wann sie ihn wiedersehen würde. »Manchmal«, erwiderte Jannis, »ist einmal einmal zu viel.«
MEIN GOTT (I) . Mit der radelnden Smyrniotin verhielt es sich so: Nach dem Tod der Hasenscharte verlor sie jegliche Lust, sich zu sehnen, jegliche Lust zu leben. Trotzdem existierte sie weiter. »Frage mich nicht wie, gidáki mou , aber man kann mich anscheinend nicht um die Ecke bringen. Dabei gebe ich mein Bestes.« Das stimmte natürlich nicht, obwohl Despina alles tat, um ihrer Familie nicht zur Last zu fallen. Ab und zu fegte sie zwischen den Hühnern, aber die meiste Zeit lag sie auf dem Bett und lauschte dem Geräusch des Eises, das unter dem Kühlschrank vor ihrem Fenster schmolz. Sie behauptete, es erinnere sie an das Wasser, das in Smyrna gegen die Kaimauer gluckerte. Jannis lachte über ihre Hirngespinste. Erst als er später neben einer Ölheizung wohnte, ahnte er, was sie gehört hatte.
In den Jahren nach jenem schönen Januarabend 1950, an dem zehn Widerstandskämpfer nach Albanien
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