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Der letzte Grieche

Der letzte Grieche

Titel: Der letzte Grieche Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Aris Fioretos
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befreit hatte. Zumindest reichte seine Verblüffung aus, um den Heimweg zu verkürzen – eine stolpernde Rückkehr, halb laufend, halb gehend, mit kochendem Brustkorb und unklaren Gefühlen in den Leisten. Je näher er Áno Potamiá kam, desto deutlicher nahmen seine Gefühle jedoch Gestalt an. Man könnte auch sagen: Schritt für Schritt verwandelte sich Jannis in ein U-Boot.
    Als Kind war er mit den anderen Jungen am Fluss entlang geschlichen, wobei sie im Flüsterton darüber gesprochen hatten, ob die rote Laterne neben der Tür tatsächlich einen Zwilling hatte, wie im Kaffeehaus behauptet wurde. Besonders Wagemutige schlichen sich bis zu den Fenstern. Im Allgemeinen kehrten sie mit erhitzten Gesichtern und zugeschnürten Kehlen zurück. Wenn weniger waghalsige Kameraden Fragen stellten, konnten sie nur mit affektiertem Stöhnen antworten. Keiner von ihnen wurde Zeuge von etwas Unanständigem, geschweige denn Verbotenem. Dafür gab es zahlreiche Gründe, aber vor allem den, dass die Madame des Dorfs vorsichtig war. Wenn sie Besuch hatte, schloss sie stets die Fensterläden – ein praktisches, allseits geschätztes Signal unter den Familienoberhäuptern, die in der Dunkelheit die Zypressen inspizierten – und zog zudem einen Vorhang vor. Nur Besucher, die das Haus von innen gesehen hatten, wussten daher, dass man sich darin nicht nur Liebesspielen widmete. Für manche waren diese nicht einmal das wichtigste. Zu den Eingeweihten gehörten größere Teile der männlichen Bevölkerung über achtzehn, Vater Lakis eingeschlossen, der es einst – als sein Handgelenk noch von einer sowjetischen Uhr geziert wurde – hilfreich gefunden hatte, zu ermitteln, worüber man in den Wintermonaten bei Stefanopoulos lächelte.
    Jannis dagegen nicht. Bis jetzt jedenfalls nicht. Als er sich an diesem Tag dem Haus näherte, wusste er also nicht, was ihn erwartete. Die Läden klapperten einträchtig im Wind, auf der Wäscheleine flatterten Laken und Unterröcke. Er wollte gerade anklopfen, als er durchs Fenster eine Stimme hörte: »Es ist offen. Ich habe auf dich gewartet.« Die Replik gehörte zu Karamellas Standardrepertoire – neben Phrasen wie »Du hast doch hoffentlich deine Spucke für mich gespart?« und »Komm und hol dir deine boboniéres «. Diesmal war sie jedoch von Fürsorglichkeit erwärmt. Aber auch das wusste Jannis nicht. Über den Wäschehaufen am Fluss gebeugt, hatte sich die Madame des Dorfs Gedanken über die Gestalt gemacht, die über die Brücke gegangen war, und überlegt, dass sie mal mit Jannis sprechen sollte. Es geschah selten, dass sie mütterliche Gefühle entwickelte, für Vassos Sohn machte sie jedoch eine Ausnahme.
    Als Jannis eintrat, fiel sein Blick als Erstes auf einen Wandteppich, der eine Hafenpromenade mit Schiffen, Häuserdächern und Minaretten zeigte, als Zweites auf eine Frau, deren Augen in einer Weise blau und farblos waren wie sonst nur wässrige Milch. Amüsiert, fast gedankenverloren, schlug sie die Kissen auf, die sie aus dem Fenster gehängt hatte, legte sie auf ein Ruhelager mit einem Betthimmel aus Mückennetz und zog die Läden zu. Karamella trug einen rosa Morgenmantel mit Borte und Pantoffeln mit Troddeln. Als sie die Vorhänge schloss, lächelte sie. »Irgendwann muss ja das erste Mal sein.« Jannis sank auf einen Stuhl, die plastikbezogene Sitzfläche klagte. Es hing ein Duft in der Luft, den er nicht einordnen konnte. Das also war der Raum, den jeder Mann im Kaffeehaus kannte, über den aber niemand sprach. Er hatte ihn sich anders vorgestellt. Hier gab es keine Federboa, die um einen Spiegel drapiert war, kein durchgelegenes Bett, das mit rotem Seidenüberwurf und fleckigen Laken Boudoir spielte. Stattdessen standen an einer Wand Regale voller Schuhkartons und Schmuckgegenstände. Er sah ein Stethoskop, eine Fahrradpumpe und kleine Cognacflaschen. Die übrigen Wände waren mit Webarbeiten verkleidet, deren Zweck wohl darin bestand, im Winter die Kälte draußen zu halten, auf denen aber auch Szenen mit gewickelten Kindern im Schilf, Pfauen und Reitern mit schrägstehenden Augen und zierlichen, über die Köpfe erhobenen Säbeln zu sehen waren.
    An manchen Stellen hingen auf den Wandteppichen gerahmte Fotografien. Sie waren vergilbt und zeigten fast ausnahmslos ernste Menschen in steifen Kleidern und mit etwas Unergründlichem im Blick. Die einzige Ausnahme bildeten die Aufnahmen direkt neben ihm. Auf der einen sah man eine junge Frau mit weißen Flecken im Gesicht und

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