Der letzte Grieche
aufhalten konnte. Genau genommen konnte er sich wie die übrigen Männer im Dorf an drei Stellen befinden: auf den Feldern, zu Hause bei den Frauen, in Stefanopoulos’ kafeníon oder bei Karamella. Der eine oder andere kommt vielleicht auf vier, aber in Wahrheit zählten allein die drei erstgenannten. Und von diesen drei Stellen entschieden sich fast alle Männer fast immer für das Kaffeehaus. Zumindest im Winter. So auch Jannis.
Als er die Tür zu Stefanopoulos aufschob, schlug ihm der Geruch feuchter Kleidung entgegen. Normalerweise setzte er sich an einen der Tische, an denen man ein Brettspiel oder Karten spielte und bestellte einen skéto . Während dieser Momente mit ungezuckertem Kaffee empfand er große Ruhe. Hinter einem der Männer sitzend, verfolgte er das Spiel und lauschte den Gesprächen. Wäre er darauf angesprochen worden, hätte er geantwortet, dass er sich praktisch überall in dem Lokal aufhielt – unter der abgewetzten Uniform des Busschaffners, in den geschäftigen Händen des Kaffeehausbesitzers, unter der Mütze, die bárba Pippis sich in die Stirn geschoben hatte … Es gab Männer, die immer schwiegen, und Männer, die nicht aufhören konnten zu reden. Nur wenn Vater Lakis eintrat, verstummten alle, sogar das Grammofon. Inzwischen kannte Jannis sämtliche Lieder auf Elios’ Schallplatten auswendig, sogar die, auf der ein spanischer Sänger so wehrlos sang, dass die meisten Männer an die einzige Stelle im Dorf dachten, die nicht zählte.
Während dieser Abende … Wochen … Monate … fand im Kaffeehaus von Áno Potamiá ein Ausgleich statt. Zur Winterzeit wurde die Ortschaft, die für das Einwohnermeldewesen von Belang war, von Fluss und Kirche begrenzt. Die zahlreichen Kränkungen, große und kleine, die vielen Anschuldigungen, unbegründet oder nicht, die verletzten Gefühle und die Proben gedankenlosen Hochmuts, von denen die meisten Bergdörfer lebten, oft wider Willen, hätten mit Sicherheit zu dem führen müssen, was man machéria , »Messer«, nannte. Aber da es das Kaffeehaus gab, kochte das böse Blut nur selten über. Dank des einen oder anderen Winks oder Fluchs gelang es den Männern meistens, die Blase platzen zu lassen, in der sie lebten. Die Gaststätte war gleichzeitig ein Konzentrat all dessen, worüber im Dorf getuschelt wurde, und das wichtigste Ventil. (Nein, Karamella zählte hierbei nicht.) Auf diese Weise glich sich der Druck langsam aus, und wenn Stefanopoulos Ende Februar die Tische wieder hinausstellte, murmelte der eine oder andere Gast für sich: »Auch wenn er auf seinem Daumen sitzt, werde ich ihm die Hand geben«, » Pféh , das war nun doch nicht der letzte Tropfen« und anderes in diesem Stil.
Der einzige, der den Ausgleich erschwerte, war Vater Lakis. Seit er zwei Monate nach dem Bürgerkrieg sein Gesicht in den Händen begraben hatte, war er merklich gealtert. Noch lagen seine Haare zusammengerollt im Nacken, aber genau wie der Bart, der den Priesterkragen verdeckte, waren sie inzwischen schmutziggrau. Die grobschlächtigen Hände waren immer noch kräftig, die Fingernägel nach wie vor eingerissen, aber der Geistliche bot nicht mehr seine Hilfe an, wenn ein Haus gebaut oder ein Schaf geschlachtet werden sollte. Das Kaffeehaus besuchte er allerdings noch, wo er sich wie üblich an dem Tisch direkt neben der Theke niederließ. Mit umständlichen Bewegungen fischte er seine Brille aus der Brusttasche unter der Tunika. Ohne zu fragen, stellte Elio ihm eine Karaffe und ein Glas hin, gefolgt von einem Teller mit Gurkenscheiben und silbrigen Sardinen mit Zahnstochern darin, die der Mann der Kirche niemals anrührte. Vor ihm lagen die Briefe und Postsendungen, die seit seinem letzten Besuch gekommen waren. »Gourgouras, Christos …« Vater Lakis spülte sich den Gottesdienst aus dem Mund.
»Parón« , rief der einzige Traktorbesitzer des Dorfs. »Anwesend.«
»Nadina schreibt dir mal wieder. Sie sind nach Milwaukee gezogen. Deine Schwester hat auch diesen Sommer nicht vor, nach Hause zu kommen. Für Vyronas läuft es gut. Er nennt sich mittlerweile Byron und hat von Italienern ein Restaurant übernommen. Aber alles, was sie verdienen, stecken sie in die Ausstattung. Eine Sodamaschine. Einen Toaster , was immer das ist. Sogar eine elektrische Gefriertruhe. Das wäre doch was, nicht wahr, Elio?« Der Priester sah sich nach dem Kaffeehausbesitzer um. »Dein Schwager behauptet, dass sie neue Maschinen anschaffen müssen, wenn ihre Kunden nicht zu den
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