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Der letzte Grieche

Der letzte Grieche

Titel: Der letzte Grieche Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Aris Fioretos
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wollte ihm nicht einfallen, an was. Es klang, als sprächen dort oben Stimmen, obwohl es genauso gut das Wasser sein mochte, das gegen den Zement gluckerte. Sicher war er sich bloß, dass es angenehm war, wo er sich befand. Abgesehen von der Luft in seiner Lunge gab es nichts, was ihn von seiner Umgebung unterschied. Er war tiefer in sich selbst versunken als je zuvor. Alles in und um ihn herum war in veränderlichen Formen gebundenes Wasser – eine sanfte und unmerkliche Verlängerung von Armen, Beinen und aufwärts strebenden Haaren, ein großer und schwebender, fast durchsichtiger Raum, der sich in Myriaden Richtungen mit ihm selbst als durchlässigem Mittelpunkt fortsetzte. Als er sich seitlich drehte, spürte er, dass sich die Haare auf Armen und Beinen gleichsam verzögert bewegten.
    Nun wurde es allerdings enger in seinem Brustkorb, und ein Teil des Drucks verlagerte sich in den Schädel. Das Blut stieg ihm ins Gesicht. Die Augen tränten, die Wimpern wurden strohig. Vergeblich versuchte er zu zwinkern. Sicherheitshalber kniff er die Augen zusammen und kämpfte darum, an etwas anderes zu denken, etwas Beruhigendes, schwer zu sagen, an was, eventuell daran, dass er sich niemals hätte vorstellen können, eines Tages umgeben von Algen senkrecht im Wasser zu stehen. Weiter konnte man sich von Áno Potamiá nicht entfernen. Nur ein Jahr zuvor war alles Sonne und Staub und eine ausgedörrte Mundhöhle gewesen. Und jetzt? Weite, wundersame Kühle.
    Jannis wusste nicht, wie viel Zeit vergangen war. Eine Minute? Vielleicht drei? Er begann zu zählen, konnte sich aber nicht konzentrieren. Ein Lufthauch entfuhr ihm, die Blase stieg auf und verlor sich an der Oberfläche. Das gab den Ausschlag. Als er sich bückte, ließ er die restliche Luft in wohldosierten Stößen aus den Nasenlöchern sickern. Es kitzelte, als zöge ihm jemand gezwirntes Seidenpapier aus der Nase. Er löste den Knoten, stieß sich mit den Zehen ab und streckte den Rücken. »Zwei und dreiundzwanzig, zwei und vierundzwanzig, zwei und fünfundzwanzig …« hörte er Anton zählen, als er aus dem Wasser schoss. »Rekord!«, schrie Theo, der bäuchlings auf dem Steg gelegen und das pomadisierte Haar betrachtet hatte, das friedlich in der Tiefe wehte.
    »Marzipan!«, sagte Jannis, dem eingefallen war, woran ihn die Farbe erinnert hatte.
    DIESES KLEINE TIER . Jannis hatte immer geglaubt, dass er es erkennen würde, wenn es kam – dieses kleine Tier, von dem wir sprachen. Wo, wann, wer – nichts von all dem wusste er. Vielleicht in Poltava, vielleicht in Kalkutta. Wenn er in Florinos’ Atlas blätterte, konnte er sich viele Orte vorstellen, an denen es sein mochte. Ebenso wenig wusste er zu sagen, wann es geschehen würde. Der morgige Tag erschien genauso wahrscheinlich wie ein bewölkter Tag in zwei Jahren oder ein kalter Vormittag in sieben. Am allerwenigsten wusste er mittlerweile jedoch, zu wem er die drei Worte sagen würde, die dazu gehörten.
    Stella war nach Achladochóri gezogen, hatte ihre goldbraunen Augen und schmalen Lippen mitgenommen, geheiratet, Kinder bekommen. Der Gedanke freute ihn. Als sie sich vor dem ersten Kind zum letzten Mal getroffen hatten, war sie im siebten Monat schwanger gewesen und hatte im Kaffeehaus ihres Bruders hinter der Theke geächzt. Die Hände, die ihn bedienten, waren rot und rauh, die Stimme, mit der sie ihn grüßte, von etwas erfüllt gewesen, das mit ihm nichts zu tun hatte. Sie bestand ganz aus Schwere, Warten und Geschäften. Und nichts von dem, was sie am Abend seiner letzten Pokerrunde gesagt hatte, änderte etwas an diesem Eindruck. Dann war da noch Anita in dem Hotelzimmer in Thessaloniki gewesen. Obwohl sie nicht zählte. Für sie war die Liebe nur eine vorübergehende geistige Verwirrung. »Und wenn man das kapiert hat«, erklärte sie, während er den Reißverschluss an ihrem Hohlkreuz hochzog, »kann sie medikamentiert werden.«
    Und Efi? Mit ihr hatte er zusammengehalten wie Pech und Piniennadel. Sie gehörten so selbstverständlich zusammen, dass sie schon ein Paar gewesen waren, bevor sie eins werden konnten. Erst gab es die Spiele und Einfälle, später die Gespräche, die gemeinsamen Geheimnisse und das Zwerchfell, auf dem er gelegen hatte. Alles sprach dafür, dass das kleine Tier unter ihrer vibrierenden Haut zu Hause war. Aber nach ihrer Operation war sie zunächst sechs Monate und nach neuerlichen Untersuchungen weitere drei Monate bettlägerig gewesen. Darauf folgten die Jahre, in denen

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