Der letzte Grieche
er arbeiten musste und sie weiter zur Schule ging. Ihre wenigen Begegnungen waren von Gegenlicht und Verlegenheit geprägt gewesen. Von einer Oberlippe mit Flaum. Gewachsten Beinen. Einem Schatten von Haut in einem Blusenausschnitt. Aber auch von Leseschwierigkeiten. Muskelkater. Und freundlichem Interesse, das sich in Verständnislosigkeit verwandelte, als das, was eine Aufforderung gewesen war, als Ironie gedeutet wurde. Sowie weiteren Entdeckungen dieser Art, wie sie Menschen in dem Alter machen. Dann kam jener Abend, an dem Efi eine mythologische Gestalt auf einer Zehndrachmenmünze studierte, und ein Eifer und eine Hitze in Haut und Händen, die er nicht stoppen konnte. Schließlich kam der Abend, an dem er mit Gewitter im Körper den Berg hinuntergegangen war.
Obwohl Jannis wusste, dass er sich falsch verhalten hatte – Efi bestimmte selbst über ihr Leben, und er brauchte nicht lange, um zu erkennen, dass Tsoulas darin keine Rolle spielte –, konnte er nicht verhindern, dass das Gefühl von Scham in ihn eindrang. Es legte sich wie Staub auf die Flügel in seiner Brust, der Spatz wurde bleischwer. Er erinnerte sich nur ungern an diese Phase, weil er das Gefühl hatte, sie in einer Welt aus wässriger Suppe und verschwitzten Kleidern verbracht zu haben. Letztendlich hatte er jedoch keine Alternative mehr und reiste nach Bromölla mit dem Gefühl, auf dem Rückweg zu etwas zu sein, das er verlassen hatte. Während er einen Arzt mit einer weißen Mütze auf dem Kopf und einer qualmenden Schublade vor dem Bauch betrachtete, den er erst später als Würstchenverkäufer identifizierte, schlummerte er warm und wohlig mit dem Gedanken ein, dass es so weit vom Nullpunkt entfernt Leben gab. Wie erwartet war ihm an den ersten Tagen dann auch, als würde der Spatz vor Glück explodieren. Efi war alles, woran er sich nicht erinnerte, was ihm aber jetzt Freude machte. Lachen. Aufmerksamkeit. Frau. Plötzlich schien seine Vergangenheit die Zukunft enthalten zu können. Doch schon bald flaute der Brustkorb ab. Er sah und erlebte so viel Neues in dem fremden Land, dass er immer ratloser wurde. Jannis war überrascht, Jannis war traurig. Jetzt, da keine Tsoulas-Partikel die Atmosphäre verschmutzten, gab es eigentlich nichts mehr, was sie daran hinderte, ein Paar zu werden. Aber ganz gleich, wie er es auch anstellte, irgendetwas sperrte sich, wenn er versuchte, jene wunderbare Nervosität wiederzubeleben, vielleicht waren es nur die Rippen, und jedesmal blieb er unsicher, wie es aussah – das Tier, dem man so viele Namen gab.
Eines Abends, als Kostas zu Freunden gegangen war, saßen sie in der Küche. Wie er selbst tat auch Efi, als wäre alles, wie es sein sollte. Aber entweder konnte sie sich schlechter verstellen oder sie ertrug es einfach nicht mehr, Schneeflocken zu zählen. Jedenfalls sagte sie schließlich: »Ich habe gedacht, du würdest mich nach der zweiten Operation besuchen …« Es war das erste Mal, dass sie Jannis gegenüber erwähnte, was passiert war – oder vielmehr: was nicht passiert war. Pause, verlegenes Lachen. »Das war dumm von mir. Im Grunde wusste ich ja, dass du keine Zeit hattest. Aber manchmal denkt man eben nicht so. Manchmal hält man sich für den Mittelpunkt der Welt.«
Er sann über den Nachthimmel nach. (Eine dunkle und sommersprossige Angelegenheit.) Er begutachtete die Fensterscheibe. (Eine saubere und uninteressante Sache.) Er betrachtete sein Spiegelbild. (Ein blasser und ratloser Typ.) Etwas später räusperte sich Efi. Diesmal war ihre Stimme leiser. Jannis begriff, dass sie so klang, wenn sie mit sich selbst sprach. »Es hat niemals einen anderen gegeben als dich … Das ist traurig, aber wahr. Du bist der einzige, Jannis. Ich habe dich vermisst, bis mir davon ganz schwindlig wurde. Frag Kostas, wenn du mir nicht glaubst.«
Das Spiegelbild blieb ausdruckslos sitzen. Schließlich sagte Jannis: »Und Tsoulas?«
»Tsoulas?« Efi schaute sich um. Ihre Stimme klang, als fiele es ihr schwer, den Namen einzuordnen. »Ach, Tsoulas …« Sie lachte resigniert. »Hast du immer noch nicht begriffen, was mit ihm war?« Sie kämpfte gegen etwas an – vielleicht Tränen, vielleicht Erinnerungen, vielleicht auch nur gegen das hoffnungslose Unterfangen, Worte für etwas zu finden, was lieber ohne auskommen sollte. Sie suchte nach einem Taschentuch, das sie nicht fand. Die Tränen waren dick und schutzlos, als sie ihre Wangen herabliefen. Schließlich stand er mit einer Serviette in der Hand
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