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Der letzte Grieche

Der letzte Grieche

Titel: Der letzte Grieche Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Aris Fioretos
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Stiefschwiegermutter. Nach dem Mittagessen war sie wie üblich in ihr Zimmer geschlurft. Ob sie auch eine Tasse Kaffee wolle? Als er die Frage wiederholte, aber nach wie vor keine Antwort bekam, sah er nach. Er fand Eleni Vembas mit dem Wintermantel zugedeckt auf dem Bett. Dem Arzt zufolge, den sie riefen, war ihr Herz aus einem der zahllosen unnötigen Gründe stehen geblieben, aus denen Herzen stehen bleiben.
    »Und heute ist ein Brief von ihr gekommen, Jannis. Kannst du dir das vorstellen? Ich habe so gezittert, dass ich mich hinsetzen musste. Ich wollte ihn gar nicht öffnen, aber Kostas riss ihn mir aus der Hand und tat es. Auch die Toten haben ein Recht zu sprechen …« Jannis hörte ihren Bruder im Hintergrund protestieren, dann schien der Hörer mehrmals hin und her zu gehen. Es musste eng sein in der Stiernhielmsgatan, denn unmittelbar darauf schlug die Wohnungstür zu. Laut Efi, die nun mit klarer, aber zittriger Stimme sprach, enthielt der Brief ihrer Großmutter keine Wünsche. »Trotzdem kam es einem vor, als würde jiajiá von, uh … von der anderen Seite schreiben, uh, huh, hu …« Während sie sich schneuzte, dachte Jannis, dass es sich mit dem Brief verhielt wie mit den Sternen: Was man sah, waren nur noch Erinnerungen. Aber Efi konnte seine Gedanken nicht lesen. Oder die anderer. Stattdessen erklärte sie, die Geschwister hätten sich gestritten, deshalb rufe sie an. Kostas wolle um jeden Preis zur Beerdigung nach Hause reisen. Wenn es die Großmutter nicht gegeben hätte, meinte er, wäre er nie auf die Idee gekommen, über das Geräusch von Autos oder die Motorik von Vögeln zu schreiben. Aber die Schwester hatte ihm verboten zu reisen, weil sie überzeugt war, dass der Geheimdienst ihn dann festnehmen würde, obwohl er schon im Gefängnis gesessen hatte. Vielleicht gerade deshalb. Stattdessen wollte sie selbst fahren. »Ich weiß nicht, wann ich zurückkomme, Jannáki mou . Ich habe eine Woche frei bekommen. Aber ich möchte, dass du weißt, ich komme zurück, weil du … Weil ich … Weil … Ach, vergiss es.« Sie schneuzte sich wieder. »Der Tod ist so idiotisch, so verdammt idiotisch.«
    Jannis blieb im Flur sitzen. Es tutete regelmäßig im Hörer, dann ging das Signal in einen langen Ton über, der erst abbrach, als er den Zeigfinger auf die Gabel legte. Er starrte weiter das Bakelit an, als könnte es jeden Moment erneut in Tränen ausbrechen. Die Löcher erinnerten an einen Duschkopf. Danach dachte er an Mücken.
    MEIN GOTT (II) . Wir befinden uns wieder im Keller, vor einem Notizheft. Es ist der letzte Nachmittag im August. Diesmal ist die Tür abgeschlossen.
    DER LEHRER: Und dann zwei Punkte darüber. Ja genau. So …
    Plötzlich bricht dem Schüler die Bleistiftspitze ab.
    DER SCHÜLER: Gamó tin!
    DER LEHRER: Das macht nichts, es sieht trotzdem aus wie ein ö . (Blickt vom Heft auf.) Was bedeutet das eigentlich, was du und Papa dauernd sagt?
    DER SCHÜLER: Du meinst gamó tin panajía ?
    DER LEHRER: Mm.
    DER SCHÜLER (denkt nach, lächelt, schont das Kind) : »Mein Gott«, man kann sagen.
    DER LEHRER: Aha. (Schlägt eine andere Seite des Hefts auf.) Kannst du lesen, was hier steht?
    DER SCHÜLER: Du weißt, dass …
    DER LEHRER: Was steht da?
    DER SCHÜLER (leise) : Mein Gott, Mars. Du weißt, das ist schwer.
    DER LEHRER: Musst du umziehen?
    DER SCHÜLER: Aber das musst du doch auch.
    DER LEHRER: Hier steht: »Musst du umziehen?« (Pause.) Ja, in einem Jahr. In einem Jahr kann viel passieren.
    DER SCHÜLER: Mm. Iberaus viel.
    DER TAG H . Vor seinem Abschied von Áno Potamiá hatte nichts Jannis daran glauben lassen, dass das Leben aus entscheidenden Ereignissen bestand. Ehe der Zug Thessaloniki verließ, war jeder Augenblick den anderen zum Verwechseln ähnlich und es wert gewesen, gefeiert zu werden – flaumige Feigen, die zwischen den Zähnen klebten, Walnüsse in einem Kissenbezug, Dinge dieser Art. Er schätzte das Leben, weil so viel darin geschah, aber fast nichts passierte. Während der Jahre, die ein Mensch atmete, aß und seinen Körper in verschiedenen Funktionen benutzte, wechselten die Dekorationen, Menschen betraten die Bühne und gingen von ihr ab. Aber die großen Erlebnisse, von denen es hieß, sie veränderten das Leben, waren so selten, dass er sie an den Fingern einer Hand abzählen konnte. Das Geheimnis des Lebens war im Gegenteil, dass es andauerte. Wer wusste schon, wann es wirklich begann? Oder endete? So hatte Jannis’ Leben beispielsweise im Januar 1943

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