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Der letzte Grieche

Der letzte Grieche

Titel: Der letzte Grieche Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Aris Fioretos
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als er am Monatsende seine Runde machte, sah er, dass sich die Oberfläche von Rand zu Rand leicht wölbte. Daraufhin reichte es, die Membran mit einer Zypressennadel zu berühren, um die Spannung reißen und das Wasser überlaufen zu lassen. So ähnlich, dachte er, denken wir uns, war es mit den Ereignissen im Leben: Alles wurde gesammelt, aber irgendwann riss die Spannung. Und dann stand man vor einem entscheidenden Augenblick, einem Gedenktag, und in manchen Fällen vor einer Katastrophe. Die Zypressennadel konnte aus einer Herzdame oder braunem Regen bestehen, einer Nacht in einem Hotel mit einer blondierten Frau, der Arbeitserlaubnis, die Doktor Florinos ihm beschafft hatte, oder dem Versprechen einer Anstellung auf Probe bei einer Saftfabrik in Tollarp. Und dann, nur dann, begriff man, die Oberflächenspannung war gerissen.
    Dienstag, Mittwoch, Donnerstag, Juni, Juli, August, 1965, 1966, 1967 … So sah das Leben aus. Lauter Übergänge. Erst wenn man seine Erlebnisse anderen vermittelte, verwandelten sie sich. Denn wenn man ein Ereignis wiedergab, wie Jannis es am ersten Abend auf dem Weg nach Balslöv getan hatte, verwandelte sich das Leben in eine Geschichte. Und Geschichten, das wusste er, bestanden aus lauter entscheidenden Augenblicken: Herzinfarkten, Militärputschen und Blitzeinschlägen, seltener aus dem Parfümtropfen hinter einem frisch gewaschenen Ohr, struppigen Ziegen oder quakenden Gummistiefeln, und praktisch nie aus nichtigen Anlässen zur Freude oder stechender Scham, trockenen, hilflosen Winden oder heißen Nächten so eng wie Schuhkartons. Geschichten waren das, was übrigblieb, wenn man das Leben entfernt hatte. Sie verwandelten Zufälle in Furchen auf dem Handteller.
    Falls jemand gerade Fanfarenstöße hören sollte, mag es daran liegen, dass Jannis in diesem Moment erkannte, was Despina ihm zu erklären versucht hatte, als er fieberglühend weinte, weil er nicht zum Fluss hatte mitkommen können. Etwas musste erst verschwinden, damit man davon erzählen konnte. Das Dasein war aus Verlusten gefertigt. Diese Einsicht ließ ihn eine immer größere Unruhe empfinden, je weiter sich der Sommer in seinem ersten Jahr am Rand der Landkarte dem Ende zuneigte. Mit Anton hatte er darüber gesprochen, was sich in der Nacht zum 3. September ereignen würde, einem Sonntag, der sogar für Balslöver Verhältnisse ungewöhnlich war, wo die Nächte ansonsten eher dem Leben glichen und weniger dem Gedichteten, denn zwischen ein und sechs Uhr morgens war auch hier jeglicher private Autoverkehr verboten.
    Man hört also Fanfarenstöße. Aber aus welchem Anlass? Die Antwort stand auf jeden Stall und Hausgiebel geschrieben, an dem man ein rhombenförmiges Schild montiert hatte, in dessen schwarzer, sechseckiger Mitte ein gelbes H prangte. Der Buchstabe war kursiv gesetzt, als wollte man auf diese Weise unterstreichen, dass er sich rechts, oder auf schwedisch: höger hielt. An strategischen Stellen wie Tankstellen und Ambulanzen, in Schulen und Verwaltungsgebäuden gab es Plakate und Informationsblätter, die den gleichen Buchstaben zeigten. Diesmal war er jedoch blau auf weißem Grund und nicht kursiv und hatte sich in eine Straßenkreuzung verwandelt, auf der sich ein zielstrebiger Pfeil vom linken Bein zum rechten Arm schlängelte. Darunter wurde sicherheitshalber das Datum wiederholt, an dem eine ganze Nation zu etwas überging, was die meisten Länder bereits hatten: Rechtsverkehr. In dieser letzten Nacht in Balslöv, das ahnte Jannis, würde die Oberflächenspannung reißen … Um dem ganzen die Form einer Geschichte zu geben.
    Am früheren Abend hatte er ferngesehen. Zum letzten Mal wurde das Thema in einer Diskussionssendung durchgekaut. Ließ es sich, wollte ein Diskussionsteilnehmer linker Gesinnung wissen, tatsächlich rechtfertigen, dass über dreißigtausend Polizisten und Angehörige des Militärs eingesetzt wurden, um den Ablauf zu überwachen? Im Gegenteil, konterte ein bürgerlicher Oberstudienrat (weißes Hemd, Strickkrawatte, zusammengepresste Knie), es hatten doch mehr als hunderttausend Freiwillige ihre Hilfe angeboten – Schulkinder, Mitglieder von Interessenverbänden, Rentner. Zeigte diese Bereitschaft nicht, dass die Reform in breiten Schichten der Gesellschaft verankert war? Man merkte, dass es den Männern schwer fiel, einander zu duzen, denn sie vermieden die Anredeform tunlichst, auch wenn dies zu umständlichen Satzgebilden führte. »Statistisch gesehen«, hier erhaschte man

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