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Der letzte Grieche

Der letzte Grieche

Titel: Der letzte Grieche Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Aris Fioretos
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einen Hauch von Ironie hinter der Brille des Oberstudienrats, »statistisch gesehen muss davon ausgegangen werden, dass sich unter den Menschen auf der Straße sogar Unholde und Banditen befinden.« »Das beweist doch nur, was ich sage«, entgegnete sein Kontrahent. »Die Umstellung fördert die Kriminalität und ist möglicherweise selbst ein Verbrechen – gegen den Volkswillen!« Er verschränkte die Arme vor der Brust. »Wissen Sie eigentlich«, sagte der Moderator verbindlich (Polohemd, kleinkariertes Jackett), »dass zur Stunde neunzehntausend Fußgängerüberwege bewacht werden?« Er wandte sich der Kamera zu. »Da bleibt einem die Spucke weg.«
    In der Nacht folgte Jannis dem Countdown liegend, mit einem Transistorradio auf dem Bauch. Er dachte daran, dass er niemals mehr die Gelegenheit haben würde, auf der linken Straßenseite zu fahren, wenn er seinen Führerschein bekam. Aber die blechernen Stimmen und die Musik machten seine Lider schwer, und als der Radiomoderator gerade erklärte, Schweden erlebe soeben die letzten Minuten der alten Verkehrsordnung, schlummerte er ein. So kam es, dass er beim Herunterzählen von zehn bis null nicht dabei war, sondern bis Viertel nach fünf traumlos schlief. Erst als Rock-Boris den letzten Refrain seines Sommerhits Halt dich rechts, Svensson sang, wachte er wieder auf. Während diverse Radiostimmen dem Land zu der Umstellung gratulierten, tastete er nach seinen Holzschuhen. Er spürte, dass etwas geschehen war, auch wenn er nicht hätte sagen können, was.
    In der Bibliothek im ersten Stock flimmerte im Licht des Morgengrauens ein Telefunkenapparat. Anton lag noch auf der Couch, seine Augen waren schmal wie Münzschlitze. Er hatte einen ernsten Moderator gesehen, der die Ereignisse der Nacht zusammenfasste, als der Sendebetrieb wieder aufgenommen wurde, und berichtete, der erste Rechtsfahrer des Landes sei schon gestern in Schonen gesichtet worden, wo ein »Ausländer unter Alkoholeinfluss« einen Lastwagen dort fuhr, wo noch die falsche Straßenseite war. Er hatte gesehen, wie das Parlamentsgebäude, »schläfrig abwartend«, des einzigartigen Augenblicks harrte, er hatte eine Stimme erklären hören, dass es eine Minute vor fünf war, und er war dem Sekundenzeiger gefolgt, der rund um das milchige Zifferblatt tickte – bis die Frau von der Zeitansage verkündete, es sei 5.00.00 und der große Pfeil, der auf sieben zeigte, sich spiegel- und gespenstergleich nach rechts wandte und stattdessen auf fünf zeigte. Als Jannis eintrat, sah er die Autos in Luleå wieder rollen, einen Kreisverkehr in Göteborg zum Leben erwachen und das Gewirr auf der Kungsgatan in der Hauptstadt brasilianische Dimensionen annehmen. »So fühlt es sich also an, rechts zu fahren … Also ich finde, man fühlt sich richtig gut dabei«, verkündete die körperlose Stimme.
    Der Grieche schaltete den Fernseher aus. »Komm, wir müssen nach der Welt sehen.« Während der Teil der Bevölkerung, der nicht auf den Straßen feierte, in den eigenen oder anderer Leute Betten schlief, spazierten sie durch das Dorf. Als sie die große Kreuzung erreichten, inspizierten sie die neu aufgestellten Schilder. Sie waren noch in schwarze Müllsäcke gehüllt, während die alten binnen weniger Minuten lebensgefährlich geworden waren. Anton überquerte die frischen weißen Striche und ging zum nächstgelegenen Schild. Er passte auf, dass keine Autos kamen, dann winkte er Jannis zu sich, der mit ausgestreckten Armen auf ihn zukam. Schnell und athletisch hob er das Kind auf seine Schultern und verteilte das Gewicht mit einem Ausfallschritt. In den folgenden Minuten stülpte die 2,30 Meter hohe Gestalt die Müllsäcke von der einen Schilderart auf die andere. Anschließend hob die untere Hälfte der Gestalt die obere herunter, und fortan würde das Abbiegen nach Balslöv keine Todesopfer fordern müssen.
    Wäre dies die einzige Revolution der Nacht gewesen, hätten wir getrost weiterschlafen können. Kurz bevor sich aus nördlicher Richtung zwei Scheinwerfer näherten, zeigte Jannis jedoch auf die drei unangetastet gebliebenen Schilder. »Krr-«, verkündete er mit seliger Grimasse. »Krr-istianstad 7 km …« Er lachte über die Abkürzung, die klang, als bisse er sich in die Zunge. »Toll-«, fuhr er anschließend fort. »Tollarp 27,4 km.« Auch das Kommazeichen bereitete Probleme. Dann zeigte er auf das letzte Schild, strahlend wie die Sonne, die in diesem Augenblick hätte aufgehen sollen. »Baalslöv,

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