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Der letzte Grieche

Der letzte Grieche

Titel: Der letzte Grieche Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Aris Fioretos
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begonnen. Als er Vassos’ mit Flüssigkeit gefüllten Bauch verließ, als Frau Poulias die Nabelschnur abband, während sie rußige Reime murmelte, und Despina das Bündel aus Fleisch und Panik hochhielt, fing es mit ihm an. Obwohl es mittlerweile genauso zutreffend war, dass es am 6. Februar 1967 auf einer Hafenbank in der Provinzhauptstadt mit ihm angefangen hatte, als er einen Stein auf das Zifferblatt der Uhr seines Vaters presste, während Möwen krakeelten und seine Lunge sich mit Salz und Diesel füllte.
    Nach diesem Augenblick wusste er, das Leben schritt nicht nur voran, einem unbekannten Tag nach dem anderen entgegen, denn ebenso richtig war, dass es rückwärts weiterging – trotz der Jahre, die vergangen, und der Handlungen, die abgeschlossen waren. Es setzte sich zum Beispiel bis zu jenem Abend fort, an dem sein Vater von der Posttasche aufgeblickt hatte und seinen Blick so lange festhielt, dass der Abstand zwischen ihnen größer wurde als alles, was bis dahin in der Welt Platz gefunden hatte. Und es setzte sich weiter fort bis zu einem heißen Sommernachmittag im durchgelegenen Bett der Eltern, bis zu einem Austausch von Flüssigkeiten zwischen Laken, die nach Seife und Erde rochen. Es setzte es sich fort bis zu jenem Morgen, an dem Vasso den schnurrbärtigen Flüchtling auf einem der Felder gesehen, sich bekreuzigt und gedacht hatte, panajía mou , egal wer, bloß nicht der, aber in einem Teil ihrer selbst, an dem sie nichts ändern konnte, wusste, er würde es sein, nur die Hasenscharte würde mit ihr um den Altar laufen, während die Trauzeugen Kränze über ihre Köpfe zu halten versuchten.
    Tatsache war, dachte Jannis, dass er auch jenseits dieser Tage andauerte und man in mehrere Richtungen gleichzeitig geboren wurde und sich entwickelte, vorwärts und rückwärts, und manchmal sogar seitwärts. Das Leben war wie ein Gewässer, das in alle Richtungen expandierte. Ein Tag wurde zum nächsten gelegt und dort gelagert, wohin die Zeit gelangte, nachdem sie stattgefunden hatte, eine schwerelose, stetig wachsende Ansammlung von Nichtigkeiten, die den meisten trist und in ihrer Einförmigkeit womöglich erdrückend erscheinen würde – wenn sie denn an sie dächten. Was sie aber niemals taten. Stattdessen machten sie weiter, wie sie es immer getan hatten, rasierten sich und kämmten sich die Haare, pflügten Äcker, besohlten Schuhe, flickten andere Menschen, oder besser, legten Verbände an, klebten Pflaster, wo es passend erschien und verordneten Medikamente, all das, wozu Ärzte ausgebildet waren, oder sie schritten ihre engen Zellen ab, versuchten braunes Wasser auf Gaskochern abzukochen und mit gebrochenen Fingern zu überleben, und manche liefen sicherlich auch Schlittschuh und krocketierten, schaufelten Schnee, bereiteten Obstsalat zu, tanzten … Die meisten Menschen glaubten, dass sie sich ausschließlich vorwärts weiterbewegten und das von dem, was sie erlebt hatten, nicht mehr hängen blieb als der Sand in den Augen beim Erwachen. Doch all diese normalen, begehrenswerten Augenblicke, die dahin gingen, lebten weiter. Dank des Gedächtnisses erwachten sie zu neuem Leben und verwandelten sich fortwährend und in tausend Richtungen wie ein riesiges Koordinatensystem, und aus diesem ganzen See von Möglichkeiten bestand ein Mensch. Dachte Jannis. Denken wir uns. Sicher, gelegentlich kam es vor, dass ein Mensch ein entscheidendes Ereignis oder eine Einsicht hinzugewann, das wollte er nicht leugnen. So mochte er beispielsweise sagen: »Ich habe eine Dummheit begangen, die ich besser nicht begangen hätte.« Oder: »Ich habe in den letzten Jahren in Schweden gelebt.« Oder: »Ich habe beim Krocket verloren.« Aber nicht einmal diese abgeschlossenen Handlungen hörten von einer Sekunde zur nächsten auf. Niemand ließ einen Freund oder ein Dorf ohne Ankündigung zurück. Niemand trat eine Reise an, ohne sie vorzubereiten. Nein. Das Wunderbare am Leben war, dass es weiterging – jetzt, bald und vor vielen Jahren.
    Jannis vermochte nicht zu sagen, wann er den Entschluss gefasst hatte, Áno Potamiá zu verlassen. Es war nach und nach passiert, wie das Wasser in den Konservendosen gestiegen war. Lange blieben die Gefäße leer, oder er drehte sie um und schüttelte einen toten Käfer und sechs lose Beine heraus. Eines Morgens sah er es auf dem Boden jedoch glitzern, und von da an ging es schnell: Von einer Woche zur nächsten schwoll der Inhalt an, erst um einen, dann um mehrere Daumenbreiten, und

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