Der letzte Grieche
Jannis, »spüre ich hier«. Er griff sich an die Stelle, an der eine pochende Blume begonnen hatte, nach innen zu wachsen.
Am 30. rief Doktor Florinos an und erklärte, es sei nicht weiter ungewöhnlich, dass es bei Erstgebärenden etwas länger dauerte. Bisher sei sie gerade einmal eine Woche über die Zeit, es gebe also keinen Grund zur Sorge. Der Doktor vergewisserte sich, dass sie die Nummer der Entbindungsstation hatten, und bat sie, sich zu melden, wenn am neunten Tag immer noch nichts passiert war. Danach erkundigte sich Jannis mindestens einmal in der Stunde, wie Agneta sich fühlte, ob das Kind immer noch Tore schoss und was er tun konnte, um das Training zu erleichtern, was sie wenig und leicht und zudem gereizt und mit einem immer festeren Dutt im Nacken schlafen ließ. Am letzten Morgen des Jahres hielt sie ein Glas unter den Wasserhahn in der haselnussbraunen Küche. Sie dachte: Wenn nicht jetzt, dann nie.
Hinterher erklärte Jannis, der Wasserhahn habe Jannoula herausgelockt. Das gebogene Küchenutensil, einer Flöte nicht unähnlich, musste eine Melodie gespielt haben, der sie nicht hatte wiederstehen können – etwas über Silber und Sehnsucht und sagenhafte Zusammenhänge. Agneta war davon weniger überzeugt. Allerdings waren sich beide – auch hinterher, in der schwarzen Zeit, die folgen sollte – einig, dass sie ihr Glas in die Spüle fallen ließ, das Fruchtwasser abgehen spürte und ein gellendes »Oh-neeein …« ausstieß. Zehn Minuten später saßen die beiden in einem Taxi, das durch die schneegepflügten Straßen der Stadt raste, kurz darauf wurde Agneta zügig in den Kreißsaal geführt. Eine freundliche, aber resolute Hebamme in roten, geblümten Holzschuhen zeigte Jannis das Wartezimmer, wo er Illustrierte von vorn bis hinten durchblätterte, ohne ein Wort zu verstehen.
Nachdem er einen Vormittag mit mehr Mücken verbracht hatte, als er für möglich gehalten hätte, erblickte er schließlich das Ergebnis, zu dem ein Stich führen kann. Kurz vor Mittag hielt die Hebamme ein griesgrämiges Wesen mit schwarzen Augenbrauen und weißen Flecken im Gesicht hoch. Der neue Mensch hinter der großen Fensterscheibe mit den Handabdrücken früherer Väter sah Jannis mit asiatischen Augen unverwandt an. Hinter durchsichtigen Wimpern blitzten die Pupillen wie schwarze Juwelen, Äonen von Zeit wirbelten in ihren sagenhaften Tiefen. Jannis spürte, dass sich sein Herz unter dünner, rosiger Haut in Schnee verwandelte. Obwohl die 3,3 Kilo Mensch, auf die er gewartet hatte wie auf nichts anderes in seinem Leben, in ein Handtuch gewickelt waren, sah er doch, dass es sich um ein Mädchen handelte. Und dass Jannoula mit einem Grübchen im Kinn auf die Welt gekommen war.
EINE ZEIT OHNE ECKEN UND KANTEN . In den nun folgenden Wochen – einer Zeit ohne Ecken und Kanten – befand Jannis sich in einem Glücksrausch. Schlaflos und selig saß er mit dem Kind auf der Couch, während seine Frau sich wusch oder Schlaf nachholte. Die zarten Händchen mit ihren langen Fischschuppennägeln schlossen sich gierig um seinen kleinen Finger, die Füße, die er an seine Lippen führte, waren kleine Wunder aus Falten. Mal studierte er die dunklen Haare, die ständig feucht zu sein schienen, mal folgte er dem Flaum, der den Hals entlang wanderte und sich so zwischen den Schulterblättern verteilte, dass er schwor, in einem früheren Stadium der Evolution müsse es sich dabei um Flügel gehandelt haben. Zwischendurch versuchte er sich – ein wenig unkonzentriert – in Schwedisch für Ausländer zu vertiefen. Agneta hatte ihm Roséns Buch zu Weihnachten geschenkt, weil sie es leid war, Regeln zu erklären, derer sie sich sicher gewesen war, bis ihr Gatte sie zum vierten Mal danach fragte. Jannoula bestärkte ihn in seiner Auffassung, dass es Menschen nur im Plural gab, aber wenn sie gegessen und ein Bäuerchen gemacht hatte, verlor er jegliches Interesse an Genus und Numerus. Während die Tochter ihn mit Augen ansah, die so offen waren, dass weitaus mehr als nur Grammatik in ihnen Platz fand, fühlte er sich verwirrt und erfüllt von allem Ungesagten. Er wusste, dass sich der Nullpunkt verschoben hatte. Der Rest war Nationalismus.
In diesen Momenten mit seiner Tochter wurde Jannis’ Gehirn sicher von vielen interessanten Gedanken heimgesucht. Gidáki mou , stellen wir uns vor, dass er dachte, nicht einmal Despina würde ihren Augen trauen, wenn sie dich sähe. Aber ich weiß, sie wäre der gleichen Meinung wie ich:
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