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Der letzte Grieche

Der letzte Grieche

Titel: Der letzte Grieche Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Aris Fioretos
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und für Ziege und Großmutter sang, als wäre der Dezemberabend in Wahrheit warm und weich und voller Verheißungen.
    Das war die Welt, die Jannis verließ, nachdem er getan hatte, was in seiner Macht stand, um sie zu retten. Das war die Welt, die in seinen Augen die beste von allen war, obwohl ihr das meiste fehlte. Und das war die Welt, zu der er zurückkehren wollte, sobald er seine Mutter und Maja stolz gemacht hatte. Dennoch beschloss er an jenem Morgen, sein Heimatdorf zu verlassen und den Bus nach Thessaloniki zu besteigen. Bis dahin hatte er das Gefühl gehabt, es sich jeden Moment anders überlegen zu können. Bevor er zum Marktplatz ging, besuchte er ein letztes Mal das Badehaus. Die Tür schlug mit einem ermatteten Laut zu. Beim Anblick des Beckens, das im Zwielicht schimmerte, überkam ihn eine Ohnmacht, die ihn allerdings nicht lähmte, sondern eher seine Entschlossenheit weckte. Grimmig griff er nach dem Kanister mit Petroleum, schüttelte die letzten Tropfen heraus und riss ein Streichholz an. Für wenige Sekunden tanzte die Flamme, dann fiel sie in die Wanne – und das Himmelsgewölbe loderte auf.
    ZUKUNFTSPLÄNE . Winter, Schneeschmelze. Frühling.
    Während das Familienleben seinen von Mahlzeiten und Schlaf bestimmten Rhythmus fand, während Jannoula wuchs und schrie und ihr Vater zwischen sieben und halb fünf Papierbögen sortierte, begann Agneta, an die Zukunft zu denken. Ihre Zukunft. Ohne ein Wort darüber zu verlieren, hatte sie sich für die Ausbildung zur Krankenschwester eingeschrieben und sah einen ebenso anstrengenden wie lehrreichen Herbst vor sich, den sie gemeinsam mit konzentrierten Studenten andächtig in Hörsälen verbringen würde. Sie sah einen Ehemann, der die Stundenzahl reduzierte und sich, abhängig von ihrem Stundenplan, entweder vor- oder nachmittags seinem Kind widmete, und sie sah neue Bekanntschaften mit genauso jungen und motivierten Frauen vorher, von denen viele alleinstehend und manche sicher auch Mütter waren. Sie staunte, wie leicht es ihr fiel, sich ein solches von modernen Lebensformen geprägtes Dasein auszumalen. Obwohl sie ihre Tochter vergötterte, wollte sie nicht werden wie ihre eigene Mutter.
    Noch ahnte der neue Schwede, den sie geheiratet hatte, nichts von diesen Plänen. Aber da Jannoula im Stile kleiner Menschen schlief – als hätte sie noch nicht gelernt, wie das ging, weshalb sie drei oder zehn Mal in der Nacht aufwachen musste – schliefen ihre Eltern nicht mehr in einem Bett. Oder auch nur in einem Zimmer. In seinen Nächten auf der Couch verschränkte Jannis wie üblich die Hände im Nacken und sann über die Insekten nach, die in der Dunkelheit sirrten. Er fragte sich, woher sie kamen. Vielleicht aus der Zukunft, bestimmt nicht aus der Vergangenheit. Eine solche Mücke war etwa die Frage, wie er an einen Gymnasialabschluss kommen sollte, damit er eine Ausbildung machen und seine Familie ernähren konnte, eine andere, warum es seiner Frau so schwer fiel, die Milch zu produzieren, die ihre Tochter benötigte. Sie hatte doch alles, was man dazu brauchte? Wehmütig fragte er sich, warum es so viele Nächte dauerte, bis er erneut seinen Schenkel auf Agnetas legen durfte, und etwas weniger wehmütig überlegte er, wann die Zeit reif sein würde, Herrn D. ein weiteres Mal zu pieksen. Mehrfach hatte er Agneta darauf hingewiesen, dass die Eheleute die Gunst der Stunde nutzen könnten, wenn Jannoula ausnahmsweise einmal ohne Koliken schlief, mit halb offenem Mund und hauchdünnen Lidern. Doch seit die Milch zu kurzen Schwüngen glanzloser Flüssigkeit versiegt war – das dürfte im April oder Mai gewesen sein – wirkte Agneta verzagt, und wenn er sie an die ehelichen Freuden erinnerte, starrte sie ihn nur an, als hätte er ihr etwas Kriminelles vorgeschlagen. Schließlich verständigte sich das Paar darauf, sich einmal in der Woche auf der Couch zu treffen »und die Sache hinter sich zu bringen«, wie seine Frau es ausdrückte.
    Jannis hatte in seinem Leben Schlimmeres erlebt, und verglichen mit der Freude, die ihn jedesmal überwältigte, wenn er sich in den Augen seiner Tochter verlor, erschienen ihm diese Schwierigkeiten nicht der Rede wert oder doch zumindest nur vorübergehend. Dennoch schlug in seiner Brust, in der es nur wenige Monate vorher ganz anders ausgesehen hatte, die Traurigkeit Wurzeln und diese verzweigten sich mit erstaunlicher Gier. Um mit den neuen Umständen zurecht zu kommen, konzentrierte er seine immer noch beachtlichen

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