Der letzte Grieche
Kräfte auf drei Dinge: (1) Jannoula; (2) gymnastische Übungen, die er am frühen Morgen und spätabends durchführte, nur in Unterhosen, aber nicht mehr im Beisein von Agneta (die sich bloß samstags vergewissern konnte, dass sein Bauch nach wie vor ein Waschbrett war, sich allerdings dafür entschied, ihre Handflächen auf den pyjamabekleideten Schultern ihres Mannes zu plazieren und folglich auch weiterhin nichts von den Wulsten nördlich des Hüftbeins ahnte); sowie (3) die Sache mit dem Abschlusszeugnis.
Letztgenannte Mücke konnte mit überraschender Selbstverständlichkeit aus dem Weg geräumt werden. Als Jannis an einem Maimorgen in die Druckerei kam, wartete sein Vorarbeiter mit einem Paar Arbeitshandschuhe auf ihn, die von der letzten Benutzung noch lauwarm waren. Er sollte das Lager der Firma aufräumen. Bei Harald Olsson wurden alte Formulare und Restauflagen nicht unnötig weggeworfen. Auch wenn einem keiner zu erklären vermochte, wozu das Material noch gut sein sollte, konnte man eben nie wissen. Aber nun hatte man Feuchtigkeitsschäden entdeckt und selbst der verantwortungsbewusste Bernt Engberg begriff, dass die meisten Sachen makuliert werden mussten. Jannis verbrachte eine Woche damit, Brauchbares von Unbrauchbarem zu trennen. Er trug hunderte Kilo übel riechendes Papier zu dem eigens dafür aufgestellten Container, baute anschließend ein paar schiefe Regale zusammen, stellte die trockenen Kartons hinein und putzte. Am Donnerstag war alles sauber bis auf die Abstellkammer, die er gemieden hatte, weil darin einige größere, mit einer zähen Flüssigkeit gefüllte Tonnen standen und er nicht wusste, was er damit anfangen sollte. Als ein Kollege ihm half, die Tonnen hinauszurollen, entdeckten sie in einer Ecke zwei übrig gebliebene Kartons. Sie hatten Schimmelflecken und die Etiketten hatten sich gelöst. Eigentlich wollte der Gastarbeiter die Kartons ungeöffnet entsorgen, aber als er den zweiten anhob, blieb der Boden am Estrich kleben und etwa zwanzig identische Drucksachen fielen ihm auf die Erde. Als er sie hinaustrug, sah er, dass ihm der Name des Autors bekannt war. Er schlug ein Exemplar der Schrift auf. Er leckte sich die Lippen. Er versank in Trance.
Nach der Arbeit begab er sich zur Familie Florinos. Lily bat ihn, im Wohnzimmer zu warten, während sie mit den Kindern zu tun hatte. Sie war wieder schwanger. Im vierten Monat. Der Gast erklärte, selbst in dieser frühen Phase der anderen Umstände sei es wichtig, keine schweren Gegenstände zu tragen. »Ich bin doch kein Gegenstand!«, protestierte Theo mit Windpocken bis weit in den Haaransatz. Lily seufzte und ließ sich in einen Sessel fallen. Jannis bot an, das Kind ins Bett zu bringen. Als Manolis kurz nach sieben heimkehrte, stolperte sein Landsmann aus dem Kinderzimmer, in dem er eingeschlafen war, und zeigte – genüsslich gähnend – was er in der Druckerei gefunden hatte. » Ópa «, sagte der Doktor und löste den schmalen Krawattenknoten. » Kindheit in Balslöv .« Er blätterte in Jan Olléns Gedichtsammlung, als handelte es sich um einen Touristenprospekt für ein fremdes Land, dann lachte er. »Sieh mal, er hat sogar das Motto von Goethe ins Griechische übersetzt. Nicht schlecht. Ich wusste, dass er ein Genie war.«
Beim Abendessen erzählte Doktor Florinos von den Brüdern Ollén. Jan habe bereits in jungen Jahren angedeutet, dass aus ihm einmal etwas Großes werden würde. »Nur schade, dass er sich nach dem, was mit seinem Vater passiert ist, in seinem eigenen Kopf verirrt hat.« Jannis hakte nach, und der Doktor erläuterte, dass der alte Ollén kurz nach dem schwarzen Freitag an der Börse mit seinen Söhnen auf den Rövaren hinausgeschwommen war und Selbstmord begangen hatte. Der ältere, damals dreizehnjährige Sohn hatte sich losgerissen und es geschafft, sich mit seinem kleinen Bruder ans Ufer zu retten. Der Vater war erst zwei Tage später aufgequollen an Land gespült worden. »Seither benahm Jan sich seltsam. Ein Studium kam für ihn nie in Frage.« Der Gast saß mit einer Scheibe Brot in der Hand am Tisch. Es kam ihm vor, als wäre sein Gehirn plötzlich eine Nummer zu groß für seinen Kopf. Er dachte an seinen Besuch in der Villa Natur zurück und redete sich ein, dass Dreck-Janne trotz seiner schiffbrüchigen Kindheit glücklich gewesen war. Dann reifte eine Idee in ihm. Am nächsten Tag ging er in seiner Mittagspause ins Büro. Als er in den schmalen Holzschubladen mit ihren dunklen Schätzen
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