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Der letzte Grieche

Der letzte Grieche

Titel: Der letzte Grieche Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Aris Fioretos
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Machte er mit seiner Abreise womöglich doch einen Fehler? Dann aber erkannte er, dass es keine Alternative gab. Nach der Pokerrunde war es immer weiter bergab gegangen, und nun blieb ihm keine andere Wahl, als die Berge endgültig zu verlassen. Als er hinaufging, um sich zu verabschieden, entdeckte er, dass man seinen Koffer dorthin gestellt hatte, wo sonst immer Maja lag, in eine Vertiefung an der Hauswand, wo die Tiere ihr Fell abgewetzt hatten. Die Tür war verschlossen. Im Haus hörte er seine Mutter murmeln: »Das fehlte gerade noch. Erst verspielst du alles, was wir besitzen, und jetzt das. Wir haben nicht vor, dir Adieu zu sagen, Jannis. Ganz gleich, was du sagst. Nie im Leben.« Zwischen ihren Schluchzern scharrte die Ziege über den Erdfußboden. Der Sohn klopfte weiter an, gab nach einer Weile jedoch auf. Stattdessen presste er den Mund gegen das Schlüsselloch. » Mána mou, Maía mou , begreift ihr denn nicht? Ich möchte euch stolz machen.« Die Worte verschwanden in der Dunkelheit. Es gab nichts mehr zu sagen. Er hörte Vasso die Ziege streicheln und eines der Lieder summen, die sie auch ihm vorgesungen hatte. Diesmal machte ihn das Lied jedoch nicht traurig, nur entschlossen. Er wusste, dass es Dinge gab, die nur ein Jannis tun konnte. Wenn er im Dorf blieb, würde er so werden wie Nikos oder Elias oder Christos, mit denen er als Kind gespielt hatte – wortkarge Männer mit Augen wie die Rückseite von Löffeln. Das machten die Berge und die Entbehrungen mit den Leuten. Nach und nach kehrte sich ihr Blick nach innen. Die Zunge verwandelte sich in eine scheue, uralte Echse. Und am Ende vertrocknete sie. Man sehe sich nur bárba Pippis an.
    Der Bus hupte. Ein letztes Mal presste Jannis das Ohr gegen die Tür. Seine Mutter hatte aufgehört zu singen, Maja mit den Hufen zu scharren. »Du willst uns stolz machen? Fällt dir nichts Besseres ein?« Vasso holte tief Luft. »Wir haben dir alles gegeben, was wir haben. Versuch nicht, uns auch noch unsere Traurigkeit zu nehmen.« Danach sagte sie etwas, was ihrem Sohn während vieler Nächte nördlich der Vergangenheit den Schlaf rauben sollte.
    ÜBER FELDER UND HÄMOGLOBIN . Gegen Mitternacht waren die Teller gespült, die Flaschen weggeräumt. »Stolz«, platzte Jannis heraus. Manolis hängte gerade das Handtuch auf. »Was ist das? Wir Griechen reden ständig darüber. Als würde er in unseren Adern fließen. Da bin ich mir nicht so sicher. Sie wissen natürlich besser, Herr Doktor, wie es um die Blutgruppen eines Volks bestellt ist, aber gibt es das wirklich, das griechische Hämoglobin? Ich frage ja nur.« Er dachte nach. »Ich persönlich glaube, dass ein Hosenmatz [Jannis verwandte den Begriff kolópedo ] einen Menschen wesentlich stolzer machen kann als ein palikári [tapferer Jüngling]. Finden Sie nicht, Herr Doktor? Ist es nicht recht und billig, das anzunehmen? Stolz muss man doch nicht selbst sein, man muss nur andere dazu bringen, Stolz zu empfinden.«
    Plötzlich schallten aus der oberen Etage gellende Stimmen herab. »Ja, ich will leben, ich will sterben im Nooorden!« Unmittelbar darauf hörte man Lilys müde Stimme, woraufhin selbst gebastelte Eishockeytore zur Seite geschoben wurden und nackte Kinderfüße in unbekannte Zimmer eilten. »Ich dachte, die würden längst schlafen …« Manolis sah sich um. » Kolópedo hast du gesagt?«
    Jannis war zum Fenster gegangen. Jetzt wölbte er die Hände am Haaransatz. Unsicher, vielleicht verblüfft, sagte er, die Nase gegen das Glas gepresst: »Das ganze Weiß da draußen, Herr Doktor, sind das Ihre Felder?« »Wie bitte?« Florinos schob die Stühle an den Tisch. »Nein, nein. Das ist der See.«
    SCHWEIGEPFLICHT . Der Doktor öffnete die Kellertür. Er überlegte, ob er seiner Frau von der Stelle erzählen sollte, die in Lund ausgeschrieben war. Auf der Treppe standen Gummistiefel aufgereiht wie Paare, die für etwas anstehen. »Herr Manolis, sehen wir, was sich morgen ergibt.« Jannis wartete mit dem Bettzeug in den Händen. »Möglicherweise nehme ich den Zug zurück nach Bromölla. Natürlich nur, wenn Sie keine Hilfe benötigen. Ich nehme an, dass hier keine Tiere gehütet werden müssen, aber ich bin auch in anderen Dingen ganz gut. Dieser See, zum Beispiel. Muss das Wasser vielleicht diszipliniert werden?«
    Als sie in das terpentinduftende Atelier hinunter kamen, legte er die Laken ab. »Herr Doktor, was ich über den Kissenbezug gesagt habe … Das bleibt doch unter uns, nicht wahr? Sonst

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