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Der letzte Grieche

Der letzte Grieche

Titel: Der letzte Grieche Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Aris Fioretos
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glaubt Frau Lily noch, mir schwirrt der Kopf.« Er testete die Bettcouch. Sie quietschte. Er lächelte. »Wie zu Hause.«
    Manolis öffnete die Tür zum Heizungskeller – und schloss sie. »Schweigepflicht«, sagte er geistesabwesend. »Ärzte unterliegen der Schweigepflicht.«
    FEDERN UND ETWAS KLEBEBAND . Als Jannis das Licht gelöscht hatte, verschränkte er die Hände im Nacken und lauschte der Dunkelheit. Er hatte das Gefühl, auf einem Schiff im Nichts zu schweben. Nach einiger Zeit drang das gleichmäßige Brummen der Heizung hinter der Wand in sein Bewusstsein. »Meine schnarchende mána …«, murmelte er zufrieden. Dann verstrichen einige Minuten, in denen er sich immer schwereloser fühlte, als bestünde er lediglich aus Federn und etwas Klebeband. Die Geräusche der Heizung waren so ruhig und friedvoll wie die Atemzüge seiner Mutter mit verstopfter Nase, nur gelegentlich unterbrochen von röchelnden Lauten. Vor allem letztere, die entstanden, wenn die Brennstoffpumpe ansprang, trugen dazu bei, dass er sich wie zu Hause fühlte.
    Jeder Mensch kennt eine Reihe solcher Erfahrungen zwischen abgebundener Nabelschnur und Herzversagen, die anderen kaum auffallen, aber entscheidend dafür sind, wie man sich selbst sieht. Man nehme beispielsweise das Schnarchen einer Mutter. Niemand, der gelernt hat, dazu einzuschlafen, vergisst, wer er war, als er im Dunkeln lauschte. Gleiches gilt für unerwiderte Liebe, Freundschaften, die niemals enden sollten, es eines Tages aber trotzdem tun, oder manche, aber nicht alle Albträume. Jedes Leben enthält Adressenlisten und Telefonbücher, auch wenn man das Alphabet nicht beherrscht, jeder sammelt Flüche und Rückschläge, und keiner bleibt von Schmerzen verschont. Aber wenn man die Augenblicke dazwischen nicht zählt, Momente des Müßiggangs und der Tristesse oder reinen, unverblümten Staunens, in denen einem nichts Besonderes oder alles Mögliche durchs Gehirn schießt und es erfüllt wird von den Unermesslichkeiten des Daseins oder nur von dem wohligen Gefühl zu sein, bleibt von einem Menschen nicht viel übrig. Dachte Jannis. Denken wir uns. Und deshalb hatte er vor seiner Abreise beschlossen, die Zeit anzuhalten.
    Nachdem er gegen neun Uhr abends in Thessaloniki eingetroffen war, hatte er sich ein Zimmer in einem Hotel in Bahnhofsnähe genommen. Am nächsten Tag schlenderte er unrasiert und hungrig, aber dennoch aufgekratzt, fast leichtsinnig, umher. Er würde erst am Nachmittag in den Zug steigen müssen und hatte die Stadt nie zuvor besucht. Folglich war er zugleich traurig und froh. Traurig darüber, Áno Potamiá verlassen zu haben, froh, mit eigenen Augen jenen Ort erleben zu dürfen, den Vater Lakis »Makedoniens grünes Juwel« genannt hatte. Im Grunde war er doppelt froh, denn er freute sich auch, jetzt endlich zu wissen, was seine Kameraden gemeint hatten, wenn sie die eine Hand um den Zeigefinger der anderen schlossen und vor und zurück zogen – üblicherweise, wenn sie über Karamella sprachen, manchmal aber auch, wenn Efi und Stella vorbeigingen. Außerdem war er besorgt und erleichtert. Besorgt, weil die Nacht mit der blondierten Frau, die vor dem Hotel gestanden hatte, ihn mehr gekostet hatte als gedacht, erleichtert, weil in seinem Pass in der Hemdtasche eine Fahrkarte mit Sitzplatzreservierung lag, nebst einer Ansichtskarte aus Bromölla, die eine Luftaufnahme mit einem Kugelschreiberkreuzchen in der Gegend der Stiernhielmsgatan zeigte.
    Kurz bevor Jannis an diesem letzten Morgen in seinem Heimatland aufstand, beschloss er, nicht noch mehr Geld auszugeben. Stattdessen lief er immer hungriger und überwältigt von allen Eindrücken durch die Straßen. Er studierte die Straßenfeger, die sich systematisch und koordiniert auf den Bürgersteigen voranarbeiteten. Er hörte die Rufe der Gemüsehändler und sah Geschäftsinhaber die Holzrollos zu ihren Läden hochschieben, bevor sie mit etwas, das wie hunderte Schlüssel klang, die Glastüren aufschlossen. Er sann über die meerblauen Stadtbusse nach, die aus den Depots gerollt kamen, und über die staubigen pistaziengrünen, die aus so fernen Orten wie Ioannina und Alexandroupolis eintrafen. Er betrachtete vor dem Odeon ein weiteres Mal das Plakat zu La dolce vita – ein dramatisches Arrangement aus blauem Rauch, rotem Samt und einer Reihe samthäutiger Elemente. Vor allem die blonde Mähne weckte sein Interesse, da sie ihn an die vergangene Nacht erinnerte. Als er den Frauen, die in wadenlangen

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