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Der letzte Grieche

Der letzte Grieche

Titel: Der letzte Grieche Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Aris Fioretos
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nächstgelegenen Holzgegenstand. Als er den Ausdruck »Holzkopf« gelernt hatte, klopfte er sich auch an die Stirn. Jannis mochte Ironie, allerdings nur, wenn es sich um Selbstironie handelte. »Wenn ich nach Áno Potamiá zurückgekehrt wäre, hätte mich mit Sicherheit das Militär gekrallt. Und das hätte übel ausgehen können. Das griechische Militär war bekannt für seine Krallen.« Er schüttelte den Kopf. »Besonders nach der Operation Prometheus.«
    TSS, TSS. Der Grieche, der die Perlen betrachtete, die Lilys Wischlappen auf der gewachsten Tischdecke hinterließ – eine Galaxie im Taschenformat –, dieser mehr oder weniger Vollgrieche gab sein Bestes, die Katastrophe zu vergessen, die dazu geführt hatte, dass er sein Heimatdorf schließlich hatte verlassen müssen. Wäre es sein Wunsch gewesen, das Schweigen zu brechen, hätte er sich erkundigen können, ob Frau Florinos Hilfe benötigte. Oder eine weniger bedrückende Erinnerung wiedergeben können, zum Beispiel eine Begebenheit aus seinen Anfangswochen in Bromölla, als er seine ersten Fahrstunden nahm, während Kostas und Efi in der Fabrik arbeiteten, als er Zeitungen austrug und in freien Momenten die Schneeflocken vor dem Fenster zählte. Er hätte sogar die Frage stellen können, von der er gehofft hatte, dass Manolis sie spontan beantworten würde, als er selbst von Áno Potamiá erzählte. Aber erstens ließen der Wein und die unfreiwilligen Erinnerungen seine Zunge austrocknen; zweitens schien der Landsmann ihm nicht sagen zu wollen, wann er in sein geliebtes Heimatdorf zurückzukehren gedachte; und drittens … drittens sah Lily ihren Mann mit nicht zu deutenden Augen an, woraufhin sie viertens die Hand ausstreckte. »Ich hoffe, dass man da unten schlafen kann. Bettzeug und Handtücher liegen auf dem Stuhl im Flur. Gute Nacht, Jannis.«
    Während sich Stille einstellte, betrachtete der Gast die Perlen auf der Decke. Sie waren nicht identisch, den anderen jedoch trotzdem zum Verwechseln ähnlich. Schließlich sagte er: »Was wäre das Leben anderes als ein Schwarm von Ereignissen, Herr Doktor? Wenn es keinen Magneten gäbe, meine ich?« »Magneten?« Manolis hörte nicht zu. Die Notoperation des Personalchefs mit den Gallensteinen hatte Kraft gekostet, und nach dem Blick, den Lily ihm zugeworfen hatte, spürte er einen ersten Anflug von Kopfschmerzen nahen. Jetzt schaute er zu den Tellern in der Spüle. »Ja, jedenfalls habe ich das gehört. Ein Mensch besteht aus vielem. Nicht nur aus Armen, Beinen und Blutgefäßen, sondern auch aus Ereignissen. Und die sind wie die Eisenspäne in einer Werkstatt. Es ist nicht gesagt, dass ein Zusammenhang zwischen ihnen besteht – gäbe es da nicht den Magneten.« Als der Gast immer noch keine Antwort bekam, fuhr er fort: »Darf ich fragen, was im Leben des Herrn Doktors der Magnet ist?« Er sah seinen Gastgeber, der gerade aufstand, erwartungsvoll an. »Nein, Sie brauchen nicht als Erster zu antworten. Ich gebe gerne zu, dass der Magnet in meinem Leben Áno Potamiá heißt. Das Dorf ist mein Nullpunkt. Oder mein Nabel der Welt, falls Ihnen das lieber ist.« Manolis wusste nicht, was er sagen sollte. Aber das Schweigen war angenehm. Und draußen schneite es. Erst als er die Spülung der Toilette im Flur hörte – das langgezogene Gurgeln verschwand irgendwo im Innern des Hauses –, antwortete er: »Lily, denke ich. Und die Kinder natürlich.«
    Jannis krempelte den Hemdsärmel herunter. »Aha, Sie meinen, dass ein Mensch den Magneten in sich tragen kann? Er muss nicht unbedingt außerhalb liegen – ist es das, was Sie meinen, Herr Doktor? Interessant. Sehr interessant sogar. Ich frage mich, was Kauder dazu meinen würde.« Er betrachtete die Schneeflocken. Ohne sagen zu können, warum es so war, wusste er, dass er sich auch an diesen Augenblick erinnern würde. Dann erläuterte er: »Als ich in Belgrad darauf wartete, in einen anderen Zug umzusteigen, unterhielt ich mich mit einem alten Serben oder vielleicht auch Russen. Kauder, Kauders oder so ähnlich. Er war Mechaniker, aber was für ein Griechisch er sprach! Vier Jahre in einer Werkstatt in Piräus. Er behauptete, er sei auf der Flucht vor dem Schicksal. Tss, tss, dachte ich. Wie soll man seinem Schicksal auf dem Balkan entfliehen können?«
    Als Florinos nicht lachte, glättete Jannis den Zettel auf dem Tisch. »Wir saßen auf einer Bank und tauschten Gedanken aus. Kauder mit seinen Erinnerungen und ich mit meinem Mückenschädel. Interessante Dinge

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