Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der letzte Grieche

Der letzte Grieche

Titel: Der letzte Grieche Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Aris Fioretos
Vom Netzwerk:
Manchesterhosen und flachen Schuhen zu ihren Büros eilten, hinterher schaute, sah er allerdings keine Blondine, die auch nur annähernd so schön oder so gewagt war. Oder wenigstens echt. Er legte zwei Drachmen in die Hand eines zahnlosen Alten, der vor einer Statue des helmbewehrten, von Taubendreck bekleckerten Generals Kolokotronis saß und mit seiner anderen Hand in das Fell eines unfassbar schmutzigen Hundes fasste. Er studierte die Losnummern, die ein Kioskbesitzer neben den Zeitungen unter dem Dach aufhängte, und machte ein Gesicht, als hätte er um ein Haar den Hauptgewinn eingestrichen. Er überlegte, ob er vielleicht doch einen Friseur aufsuchen und sich rasieren lassen sollte, zählte dann jedoch die Münzen in seiner Tasche und beschloss, es bleiben zu lassen. Er setzte sich in ein Straßencafé und trank den Kaffeesatz, den ein früherer Gast zurückgelassen hatte. Als er merkte, dass ihn eine Frau einige Tische weiter verstohlen ansah, strich er sich mit den Händen durchs Haar. In seiner engen Gabardinehose spürte er, was die nachnamenlose Dame im Hotel seine »Herrlichkeit« genannt hatte. Er spielte mit einer Streichholzschachtel, die auf dem Tisch lag, nahm eins heraus und steckte es sich in den Mund. Konnte es die gleiche Funktion erfüllen wie die Zigarette, die der Mann auf dem Filmplakat rauchte? Er erhob sich mit einem schiefen Lächeln, als wäre ihm in diesem Moment etwas eingefallen, und ging den gleichen Weg zurück, den er gekommen war, zu dem Fotoatelier neben dem Kiosk. Er sagte nein, als der Besitzer hinter der Ladentheke wissen wollte, ob er ein Passfoto benötige. Stattdessen zeigte er auf seine Armbanduhr – es war zehn nach zehn, plus eine Anzahl von Sekunden – und lächelte weiter, nachdem der kopfschüttelnde Fotograf die Uhr ausgebreitet und das Bild geschossen hatte, das der Fremde ihn in einen Briefumschlag zu stecken und Familie Georgiadis in Áno Potamiá zu schicken bat … Ja, Jannis sah und erlebte viel an diesem letzten Februarvormittag in seiner patrída .
    Wenige Minuten vor zwölf setzte er sich auf eine Bank unweit eines weißen Turms. Beim Anblick des Meers, das zwischen knarrenden Fischkuttern glitzerte, und eines rostigen Schiffs, musste er an all die Dinge denken, die er zurückließ. Tränen schnürten ihm den Hals zu, die Hand, die den Koffer hielt, zitterte. Aber langsam verebbte die Unruhe, vielleicht war es auch Traurigkeit. Er ging zu einem Blumenbeet und scharrte mit dem Fuß in der rotbraunen Erde. Er fand einen Stein und füllte seine Lunge mit Hafenluft. (Dieselöl, vergammelter Fisch, Salzspritzer gegen den Pier.) Feierlich streifte er zum zweiten Mal an diesem Tag seine Poljot ab und breitete das Armband auf der Bank aus. Anschließend wischte er sich die Augen trocken, dachte an die letzten Worte seiner Mutter, ehe er zum Bus gegangen war, und presste die spitze Seite des Steins gegen das Zifferblatt. Als das Glas mit einem kranken Knirschen sprang, erklärte er, als wollte er sich einer Wahrheit vergewissern, die in unausweichlicher Veränderung begriffen war: »Ich heiße Jannis Georgiadis und ich komme aus Áno Potamiá.«
    Es lässt sich nicht leugnen. Unser Held entspricht dieser griechischen Konvention: Er ist Fatalist. Die beschädigte Uhr − die er nun vom linken zum rechten Handgelenk verlegte – war sein Schibboleth, eine Rückfahrkarte in eine Zeit, die sonst unweigerlich verloren ginge.
    Seither waren siebenunddreißig Tage vergangen. Während die Mücken in seinem Kopf allmählich vom Brummen der Ölheizung verscheucht wurden, dachte Jannis, dass Haus Seeblick ihn an sein Heimatdorf erinnerte. Der Retsina, der Salat und die unbenutzten Messer … Die Stunden am Küchentisch eine Treppe höher hatten ihn veranlasst, Dinge zu erzählen, die er nicht einmal Efi anvertraut hatte. Als er sich an das Schnarchen seiner Mutter erinnerte, bildete er sich deshalb ein, wieder in seinem alten Bett zu liegen. Das einzige, woran er sich lieber nicht erinnerte, während er immer tiefer in den Schlaf glitt, war die katastrofí , die dazu geführt hatte, dass er sein Dorf verlassen musste. Stattdessen hob er in der Dunkelheit die Armbanduhr und klopfte mit dem Fingerknöchel gegen das beschädigte Zifferblatt. Man stelle sich seine Überraschung vor, als er den selbstleuchtenden Sekundenzeiger springen sah – nun ja, nicht viel, von siebzehn auf sechzehn Sekunden nach der vollen Minute. »Ich bin Áno Potamiá gerade ein Stückchen näher

Weitere Kostenlose Bücher