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Der letzte Grieche

Der letzte Grieche

Titel: Der letzte Grieche Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Aris Fioretos
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gerückt«, murmelte Jannis. Dann wurden seine Lider so schwer, mit kleinen unsichtbaren Kreuzen darauf, dass er sich umdrehte und die Hand unter das Kissen schob. Obwohl er nur aus Federn und etwas Klebeband bestand.
    EIN ABENTEUERLICHES HERZ . Nach Jannis’ Zweifeln an der Verwandtschaft gewisser Buchstaben dürfte es niemandem verborgen geblieben sein, dass er weder Lesen noch Schreiben sonderlich gut beherrschte. Eines Tages würde sich ihm das verfluchte Reich der Zeichen aber noch erschließen, dachte er. Denken wir uns. Und er behielt Recht: Nach gerade einmal einem halben Jahr in Balslöv lernte er in zwei Sprachen lesen und schreiben. Noch haben wir nicht ermittelt, wie es dazu kam, aber es kann ihm nicht schwer gefallen sein. Das einzige, was ihn daran gehindert hatte, sich das Alphabet in einem Alter anzueignen, in dem die meisten Menschen seine Geheimnisse erkundeten, die Freunde in Bromölla eingeschlossen, war die abgebrochene Schullaufbahn. Da dieses Scheitern ebenso selbstverschuldet war wie der Grund dafür, dass er sein Heimatdorf verließ, ergab er sich allerdings mit einem Gleichmut in die Buchstabenlosigkeit, die für andere eine Schmach gewesen wäre.
    Von seinen Vorfahren konnte als Einziger Erol Bulut lesen und schreiben. Ersteres bereits im Alter von fünf Jahren, letzteres mit sechs – ausschließlich arabische Schriftzeichen, versteht sich, denn das war vor Atatürks Modernisierungsreform. Das griechische Alphabet lernte er im Frühjahr 1894 – in erster Linie, um einer gewissen Despina Bakirikas parfümierte Briefe schreiben zu können, einem Mädchen, das machte, was türkische Jungs machten, und deshalb in dem Ruf stand, ein abenteuerliches Herz zu haben. Der Ausdruck war eine oft benutzte Umschreibung in einem Jahrhundert, das nicht so keusch war, wie es den Anschein haben mag, wenn man sich darauf beschränkt, die feierlichen Mienen und gestärkten Kragen auf sepiafarbenen Abzügen mit ihren gezackten Borten zu betrachten. Dass sich Jannis’ Großmutter von ihrem Herzen hatte leiten lassen, entsprach gleichwohl weniger der Wahrheit, als die Leute annahmen, wenn sie das Mädchen mit einer praktischen Hose und einem Hemd à la d’Artagnan auf ihrem Enfield-Rad hinter den Jungen herfahren sahen. Sie begriff bloß nicht, warum Mädchen nicht tun dürfen sollten, was sie wollten.
    Erol arbeitete für den Tausendkünstler des Stadtteils, den umtriebigen, aber nicht sonderlich lebenstüchtigen Stelios Vembas, der Briefe schrieb und Erbbaurechte kontrollierte, Salben und Tinkturen verkaufte, Werkzeuge und einfachere Apparate reparierte – ALLES VON SCHRIFTSTÜCKEN BIS ZU VELOZIPEDEN , wie es über seinem Büro in der oberen Etage hieß. Nach dem Konkurs in Hisarlik hatte er das Schild in den Austin der Familie gepackt und war immer noch stolz auf seine Talente, auch wenn er mittlerweile wesentlich mehr Zeit auf pneumatische Schläuche als auf Fernbriefe und Geschäftsklauseln verwandte. Seine Kombination aus Werkstatt und Schreibbüro lag übrigens auf dem Weg von Despinas Zuhause zur Bäckerei der Familie, unweit des berühmten Sporting Clubs der Stadt, weshalb das Mädchen dem Türken schon aufgefallen war, bevor er ihr Fahrrad reparieren sollte. Seine Briefe wurden allerdings von Sofia, der Mutter des Mädchens, verbrannt, die zwar nicht lesen konnte, ihren Inhalt aber dennoch verstand.
    Despinas Herz wurde an jenem Frühlingstag abenteuerlich, an dem Erol einen Platten an ihrem Fahrrad flickte. Er war vor kurzem zweiundzwanzig geworden, sie siebzehn, und es bedurfte bloß einer übermenschlichen Anstrengung, um sie erkennen zu lassen, wie inhaltsschwer diese grünen Augen waren. »Sollen wir einen Ausflug machen?«, brachte er heraus. Unter seiner Brustbehaarung schlug ein täppischer Vogel mit den Flügeln. Um das Tier zu beruhigen, überprüfte er die Kette, die er eben erst geölt hatte. Sie produzierte einen sanft schnurrenden Ton – der perfekte Rosenkranz für ein mechanisches Zeitalter. Die Pedale mussten allerdings ein bisschen nachgezogen werden, was er tat. Despina betrachtete die langen Wimpern, die schöne, aber schmutzige Nase, die vollen Lippen. Auch wenn er nur fünf Worte gesprochen hatte, war sie ergriffen. Nie zuvor hatte ihr jemand solch einen Willen, solch eine rührende Hilflosigkeit gezeigt – am allerwenigsten ein tauber Türke. Den Kopf schief gelegt, artikulierte sie klar und deutlich. »Weißt du was? Ich weiß, wo die besten Mandeln wachsen.«
    Eins

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