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Der letzte Grieche

Der letzte Grieche

Titel: Der letzte Grieche Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Aris Fioretos
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spielte das Alter da schon für eine Rolle?
    Der Besuch fand an einem Sonntag statt. Es wurde eine stille Angelegenheit mit Fliegen, die mit Puderzucker bestäubte loukoúmia umschwirrten, und langen Phasen des Schweigens bei flackernden Kerzen. Drei Personen spürten ihre Kleider kratzen und fragten sich, wie das bloß enden sollte. Nur die vierte zeigte Kostproben jener Art von Ängstlichkeit, die ihren Ausdruck in übertriebener Begeisterung findet. In der vorherigen Nacht war Lefteris an der Reihe gewesen, sich schlaflos in seinem Bett zu wälzen. Nachdem er Gebete und Stoßseufzer in einer Weise vermischt hatte, die Segen und Fluch ununterscheidbar machten, war er überzeugt, dass allein eine orthodoxe Ehe die Monde und Minarette aus dem Blut seiner Tochter vertreiben konnten. Seines Jugendfreunds war er sich noch nicht so sicher. Mit hochtrabenden Worten pries er dementsprechend das Heimatdorf. Gab es einen anderen Ort, an dem die Seidenraupen so groß waren? Wie der Daumen eines Schreiners nach dem Hammerschlag! Nur in Kalónero waren die Oliven wohl saftiger als Kirschen, die Sonnenblumenkerne salziger als Tränen, nicht wahr? Undenkbar, dass es woanders jemanden gab, der es so faustdick hinter den Ohren hatte wie ihr Pfarrer, der auch schon mal abends um halb elf zum Gottesdienst läuten ließ, nur weil es ihm Spaß machte zuzusehen, wenn sich die alten Frauen, schwarz gekleidet und gotteslüstern, wie Tauben sammelten. Oder denkt nur an die beiden Männer, die ihre Kräfte beim Armdrücken gemessen hatten, bis ein Knochen brach. Das war was anderes als die fein gekleideten Städter mit ihren weichen Handgelenken, die Lefteris mit Brezeln und Mandelteilchen versorgte. Ja, ja, auch mit Fladenbrot. Im Übrigen trat niemand die Weintrauben so geduldig wie der alte Skourtos. Stundenlang trabte er im Kreis, der Mann, wie ein Dromedar, mit hochgeschlagener Hose und den Händen auf dem Rücken, bis jemand ihn zwang, den Bottich zu verlassen, woraufhin er sich mit den Füßen aufstampfend fragte, wohin er sich nun wenden sollte. Ihr Dorf war voller seltsamer Geheimnisse, voll wildester Schönheit. »Nicht wahr, mein Freund?«
    Der Gast hatte nach jeder dichterischen Freiheit genickt. Er war groß und schlank und so blass, dass sich Despina unweigerlich die Frage stellte, ob er aus Talk bestand. Woraus sich im Übrigen der Name ergeben sollte, unter dem sie im späteren Leben von ihm sprach – wenn es denn je dazu kam. Herr Talk. Jetzt rührte ihr zukünftiger Gatte kultiviert in seiner Kaffeetasse mit orientalischem Muster und blickte von Zeit zu Zeit nachdenklich zu den Gardinen, die sich vor dem Fenster bauschten. Als wollte er lieber gehen, dachte Lefteris und steigerte sich zu neuer Beredsamkeit. »Übrigens bist du an dem Tag geboren, an dem Ioannis Kolettis unser aller Sehnsucht in Worte gefasst hat. Mein Gott, unser Heimatdorf hat lange genug unter den Fladenbrotessern gelitten. Die Zeit ist reif für eine große Idee!« Despinas Vater spielte auf den früheren griechischen Premierminister an, übrigens walachischer Herkunft, der davon geträumt hatte, erneut ein Reich aufzubauen, das sich so weit erstreckte wie einst Byzanz. »Wer könnte besser geeignet sein, kommende Generationen aufzuziehen als ein Ioannis aus Kalónero, der noch dazu genauso alt ist wie Kolettis’ Vision?«
    Der Gast schwieg weiter, so dass die Lobeshymnen nach einer Weile versiegten. Aus reiner Mutlosigkeit hegte Lefteris allmählich den Verdacht, dass seine Worte die gegenteilige Wirkung hatten und den Freund vergraulten. Und dann … dann konnte er ebenso gut stumm bleiben. Er warf Sofia einen bekümmerten Blick zu, die mit leeren Augen zurücksah. Wie sollten sie es jetzt anstellen, die Tochter zu verheiraten? Fast alles deutete darauf hin, dass Herr Talk darüber nachdachte, ob er in Smyrna bleiben solle. Der Grund für die Einladung war ihm keineswegs entgangen, und während der Bäcker sich für ein Dorf in Rage redete, in dem er nicht mehr heimisch war, versuchte er seinerseits auszurechnen, wie weit der Verkauf des Viehs sowie die Mitgift reichen würden. Für eine Wohnung, ein Haus? Vielleicht mehr?
    »Unglaublich«, fauchte Despina, als sie das Geschirr hinaustrug. »Das einzige, was es in diesem Kaff in Hülle und Fülle gibt, sind gottvergessene Kreaturen.« Die Mutter legte eine Hand auf Despinas Arm. »Vergessen kann eine Tugend sein. Es könnte nicht schaden, wenn du dich von Ahmed oder Mustafa oder wie er heißt

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