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Der letzte Grieche

Der letzte Grieche

Titel: Der letzte Grieche Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Aris Fioretos
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führte zum anderen – heißer, staubiger Nachmittag, warme, schmutzige Finger, eiskaltes Quellwasser aus der gewaschenen und hohlen Hand eines Mechanikers. Und einige Wochen später hatte Despinas Mutter allen Grund, die Metapher ernst zu nehmen. »Ihr Herz ist viel zu abenteuerlich«, stöhnte sie in ihren Gebeten zu einem Ort über dem Lampenschirm. »Gütiger Himmel, der Junge scheint ja nett und harmlos zu sein, aber was ist, wenn sein Herz auch abenteuerlich ist? Das wird Lefteris umbringen.« In der anderen Betthälfte beschränkte sich ihr ahnungsloser Gatte darauf, sich über die Türken zu beklagen, die ungesäuertes Brot kauften. Diese Litaneien endeten unweigerlich mit der Feststellung: »Aber sie kommen eben aus Anatolien, was kann man da schon erwarten. Feinschmecker? Nicht in tausend Jahren.«
    Wenn Despina den wahren Erol beizeiten kennengelernt hätte – oder zumindest den Erol, der ihr alles andere als Harmlosigkeiten schrieb, während der Puls Blumen in seinen Adern austrieb: »Lass mich deine rote Schleife lösen, Liebste, und den Sack mit dem Mehl der Zukunft füllen!« oder »Meine Sehnsucht ist ein schwellendes Brot in deinem heißen Ofen, o liebreizende Bäckerstochter mit Kümmel auf der Oberlippe!« –, ist nicht gesagt, dass sie sich ihm so vorbehaltlos hingegeben hätte, wie sie es an einem Nachmittag hinter einer Moschee am Stadtrand tat, nachdem sie die Fahrräder gegen die Wand gelehnt hatten und außer Erols Atemzügen nur Zikaden zu hören waren. Diesmal blieben die Mandeln an den Zweigen.
    Eine Art Ewigkeit verging. Und als sich die Freunde wieder auf die Fahrradsättel schwangen, herrschte eine so selbstverständliche Nähe zwischen ihnen, dass Despina wusste, sie enthielt mehr, als sie gerade getan hatten, und mehr, als sie selbst waren, und war dennoch nichts anderes als das: sie selbst. Die Reifen summten koordiniert, die Ketten schnurrten zur gleichen methodischen Melodie. Erol, der ihre Gedanken nicht lesen konnte, schlug vor, zum Hafen hinunter zu radeln. Nickend trat Despina energisch in die Pedale. Mit jedem Tritt steigerte sich das Gefühl der Verzückung, denn die Pedale vollbrachten gerade ihr kleines Mirakel: hinab ins Nichts, herauf aus dem Nichts, hinab ins Nichts, herauf aus dem Nichts. Sie lachte. Ihr war, als hätten Kette und Zahnräder etwas so Kompliziertes gelernt wie das Atmen. Zwanzig Minuten später saßen sie auf einer Treppe an der Kaikante, im Schutz von ein paar Ballen und einer zusammengerollten Trosse, die nach Tang und Rohöl roch. Der Türke zog eine Flasche mit lauwarmem Zitronensaft aus der Tasche. Sie befanden sich in einem Versteck, das nur für sie erfunden worden war, im Schutz der Zeit, vor sich die Welt. Es war kurz nach fünf, die Stadt erwachte allmählich zum Leben. In der Ferne hörte man einen Muezzin, schon bald war alles Wärme, Glück und säuerlicher Speichel.
    Als Despina auch den letzten Schluck getrunken hatte, zog sie ihre Schuhe aus und setzte sich zwei Treppenstufen tiefer. Sie fühlte sich wund und unübersichtlich, sie schloss die Augen und ließ das Wasser zwischen den Zehen kitzeln. Es fiel ihr schwer, einen Temperaturunterschied festzustellen. Erst als sie mit den Fußsohlen plantschte, begriff sie, dass sie sich zum Teil in einem anderen Element befand. Während sie die bronzefarbene Wasserfläche betrachtete, wurde ihr schlagartig bewusst: Was geschehen war, würde sich niemals ungeschehen machen lassen. Es spielte keine Rolle, was als Nächstes passierte, sie und Erol befanden sich für immer auf der anderen Seite. Das Wissen darum machte sie warm und gewaltig, das Wissen brachte ihre Lippen dazu, sich zu einem Lächeln zu kräuseln, das vermutlich dümmlich aussah. Noch immer atmete alles in ihr und ringsum – auch das Wasser, dessen Oberfläche sich wie ein Brustkorb hob und senkte. Von nun an würde es den Fahrradmechaniker für alle Zeit in ihr und außerhalb von ihr geben.
    Der Türke grunzte. Auf einem der Schiffe draußen am Pier ging gerade ein Matrose zur Reling, wo er umstandslos einen Eimer ausleerte. Kaum waren die Eierschalen und Fischgräten, der Reis und die matschigen Tomaten im Wasser gelandet, als sich auch schon Möwen auf die Abfälle stürzten. Der Mann wischte sich die Hände am Hemd ab und zündete sich eine Zigarette an. Zufrieden beobachtete er die Vögel beim Kriegspielen. Die Geräusche erreichten die Kaikante seltsam verzögert, vom heißen Nachmittag ummantelt. Als das Spektakel

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