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Der letzte Grieche

Der letzte Grieche

Titel: Der letzte Grieche Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Aris Fioretos
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schließlich endete und die Möwen sich nach ein paar kreischenden Runden zerstreuten, warf der Mann die Kippe fort und verschwand im Schiffsrumpf. Wieder wurde alles still und dumpf, aber in gewisser Weise lebten die Geräusche und Bewegungen in der Luft weiter. Flügelschläge, dachte Despina und plantschte mit den Füßen, es war, als ruhte die Welt auf einem Bett aus Flügelschlägen.
    Sie wandte sich um und wollte schon erzählen, dass das Universum wahrscheinlich von einem Paar riesiger Pedale in Gang gehalten wurde, die es atmen ließen, aber ihr Freund hatte die Augen geschlossen. Er schien zu schlafen. Als sie sein asiatisches Gesicht betrachtete, so rosig, aber ernst, so still und selbstverständlich, erkannte Despina, sie hätten auch noch warten können. Mit Erol hatte sie alle Zeit der Welt. Er war hier, um zu bleiben. Diese Gewissheit ließ sie lächeln, diesmal etwas weniger dümmlich. In Wahrheit fand Despina nämlich nicht die Leidenschaft des Türken, sondern seine Scheu anziehend. Im Gegensatz zu den Männern in der Bäckerei, die ihre schalen Witze über einer für alle, alle für einen rissen, wollte er nicht mehr nehmen, als er gab. Der verlegene Blick, die Schweigsamkeit und der kleidsame Schmutz auf den hohen Wangenknochen … Als sie sein friedliches Gesicht und den Schweiß sah, der am Haaransatz glitzerte, vereinten sich zwei Dinge, die sogar in Smyrna selten waren: Liebe und Kontrolle.
    An diesem Punkt müssen wir die Szene abbrechen, da es uns nicht gelungen ist, mehr aus den Depots der Geschichte auszugraben. Das meiste sind sicher ohnehin Mythen, weitergegeben zwei Generationen später und von Personen, die sich auch nur auf mündliche Überlieferung berufen können. Aber spätere Ereignisse legen die Vermutung nahe, dass Despina nicht mit dem rechnete, was hinter dem Heiligtum am Rande Smyrnas passiert war. Im Übrigen ist nicht gesagt, dass sie sich ihm so vorbehaltlos hingegeben hätte, wie sie es tat, wenn sie seine liebestollen Briefe gelesen hätte. Noch weniger sicher ist, dass sie sich zwei Monate später mit ihrem Freund im Le Pôle Nord, einem beliebten Café im Stadtzentrum, verabredet hätte. Die Bäckerstochter wunderte sich darüber, dass ihre Leisten schmerzten, und ärgerte sich nicht zu knapp, wenn sie beim Fahrradfahren außer Atem geriet. Die Hände unter dem Bauch gefaltet, den Blick überallhin, nur nicht auf die grünen Augen des Türken gerichtet – »blass wie Gras im Mai«, dachte sie verwirrt, »dass sie so weh tun können« –, versuchte sie ihm verständlich zu machen, welche Folgen die Begegnung hinter der Moschee gehabt hatte. Sie seufzte und stöhnte und machte ihren Bauch größer, als er war.
    Aber ihr Freund konnte, oder wollte, nicht begreifen. Nicht einmal die vielsagenden Blicke, die Despina einer Gruppe mit Kindern wenige Tische weiter zuwarf, ließen den Groschen fallen. Dieses Unvermögen machte sie immer wütender. Sie konnte darin nichts anderes sehen als einen Mangel an Fürsorglichkeit, als Desinteresse und männliche Fahrlässigkeit. Nicht gewohnt, sich schutzlos zu fühlen, beschloss sie, die Situation zu verabscheuen. Der Mechaniker soll eine letzte Chance bekommen, dachte sie aufgebracht über ihre eigene Abenteuerlichkeit, aber dann war Schluss. So sehr sie die Ruhe in seinen Händen und die Stille in seinem Gesicht auch mochte, wollte sie in ihrem Leben doch von niemandem abhängig sein – auch nicht von einem Türken mit den grünsten Augen in der Geschichte der Menschheit. »Erol, wenn du nicht vorhast, etwas zu sagen, will ich dich auch nicht zwingen. Aber du könntest wenigstens versuchen zu verstehen …« Sie biss sich in die Lippe. »Ich werde langsam sprechen. Man weiß nie, es sind schon größere Wunder geschehen. Also, es ist so. Sogar der Mond, der über deinem Teil der Stadt scheint, wächst. Heute mag er eine Sichel sein, aber morgen haben wir dann einen Halbmond und übermorgen Vollmond. Und dann, mein Freund, werden keine Brote aus dem Ofen geholt. Wenn du verstehst, was ich meine.«
    Wie immer hatte Despina mit plastischem Mund gesprochen, um das Gewicht einzelner Worte zu unterstreichen. Als sie jedoch Erols schlaffe Lippen sah, verließ sie der Mut. Sie leerte ihre Tasse in einem Zug und fauchte mit Kaffeesatz zwischen den Zähnen: »Ich meine, wenn du nicht kapierst, was hinter einer Moschee passieren kann, heißt es Gute Nacht. Begreif das doch, um Gottes Willen. Oder um Allahs, wenn dir das lieber ist. Bald

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