Der letzte Grieche
weiter versuchte, mit dem Schmerz in seiner Brust zurechtzukommen, setzte sich. Es war eine lange Reise gewesen. »Ja, ja«, murmelte er hilflos. »Das glaube ich wohl.« Er suchte nach seinem Taschentuch, wiederholte die Worte, diesmal mit einem Fragezeichen, und wischte sich die Stirn trocken. Despina wandte den Blick zur Decke, ihr Sohn fing an zu schreien.
Als Athanassia mit dem Kind ins Schlafzimmer zurückgekehrt war, sortierte der Vater seine Eindrücke. Es waren viele und ungewohnte, aber es glückte ihm besser als erwartet. Nach einer Weile trommelte er mit manikürten Fingernägeln auf dem Tisch. »Sieh an, sieh an.« Die Pumpe lag eingepackt neben ihm. »Und was machen wir jetzt?« Trotz seiner gut gemeisterten Unsicherheit war er stolz. Herr Talk (*1844 in Kalónero, †1900 auf einem frisch gekehrten Bahnsteig in Smyrna), hatte nichts dagegen, seinen Beitrag zur Zukunft zu leisten. Auf eine abstrakte Art schmeichelte es ihm, dass sein vollgriechisches Blut in einem anderen Menschen weiterleben würde. Aber war sein Sohn nicht etwas zu schnell zur Welt gekommen? Konnte es trotz der Tatsache, dass die Zeit relativ war, zwischen Aussaat und Ernte nur sieben Monate dauern? Und was war eigentlich in der Hochzeitsnacht passiert? Alles war ihm so neu und ungewöhnlich erschienen, so fremd, dass er nicht mehr beschwören mochte, getan zu haben, was seine Frau behauptete – und was er später, mit größerer Ungezwungenheit, in Konstantinopel wiederholen sollte. Um seine Unsicherheit zu betäuben, entkorkte er die Ouzoflasche auf dem Tisch. »Is ijían!« Er stellte das Glas mit einem Knall ab. »Manchmal haben wir Männer es einfach eilig.« Es folgte ein anisduftendes Lachen. »Ach ja. Die hier ist für dich. Nochmals Prost.« Er schob die Pumpe hinüber, während die Frauen den Trinkspruch wiederholten – Despina murmelnd, das Geschenk in der Hand, Athanassia laut und deutlich aus dem Schlafzimmer. Keine der beiden brachte es übers Herz, ihm zu erzählen, dass der Junge eine Hasenscharte hatte.
So unwahrscheinlich es klingen mag, der Vater entdeckte das Gebrechen erst zwei Wochen später. Genauer gesagt bei der Taufe seines Sohns. Und bei dieser Gelegenheit meinte er nur: »Eine Hasenscharte? So, so, schau an. Sein Gesicht sieht aus wie ein Kebab. Gibt es so etwas auf deiner Seite, Lefteris?« Der Bäcker beschränkte sich auf ein Schnauben. Auch der Geistliche, der seltsamere Taufen als diese erlebt hatte, zog es vor zu schweigen. Doch als er Stirn, Brust, Rücken, Hände, Füße, Ohren und Mund des Kinds mit Olivenöl salbte, flüsterte er sicherheitshalber: »Woher du auch kommen magst, kleiner Freund, von jetzt an bist du ein waschechter Grieche. Vergiss das nicht. Und mach deine Mutter stolz.«
EIN KEBAB . Wir befinden uns immer noch in der von Wintersonne durchfluteten Wohnung über Bakirikas’ Bäckerei. Es ist ein Januarmorgen im Jahr 1900. Staubpartikel rotieren in der stillstehenden Luft, in der Ferne hört man eine Dampfpfeife. Ein britisches Kreuzfahrtschiff läuft gerade in den Hafen ein. Am Giebel im Vorraum ist das rußige Kreuz zu sehen, mit dem zwei Wochen zuvor das neue Jahrhundert gesegnet wurde. Ein Mann in Hemd und Unterwäsche schiebt ein paar Kleiderbügel zur Seite. Er sucht nach einem bestimmten Anzug. Seine Kniescheiben sind rot wie gerupfte Hühner, die dünnen Strümpfe werden an den Waden von Spangen hochgehalten. Während er etwas unsichtbaren Staub von seinem Jackett bürstet, erklärt er der Frau vor dem Spiegel, dass er beabsichtigt, seinen Cousin in Konstantinopel noch einmal zu besuchen. Die Szene ist so still und voller Ruhe wie jene, bei der sich das Paar fünf Jahre zuvor kennenlernte. Aber statt die Haare glattzukämmen, wie die Mutter es getan hatte, prüft Despina, ob sie noch einen Zopf tragen kann. Zu ihrem spiegelverkehrten Mann sagt sie: »Wegen uns brauchst du jedenfalls keine Rückfahrkarte zu lösen.« Eine opalgrüne Fliege krabbelt auf einer Flasche mit dem Etikett »4711«. Ihr Gatte stopft sich den kleinen Finger ins Ohr. »Ich verstehe nicht.« Was er tatsächlich nicht tut. Seine Gattin betrachtet das bleiche Gesicht, die schmalen Schultern, den bebenden Finger mit dem langen, gelben Nagel. Talk, nichts als Talk. »Ich weiß nicht, was du da drinnen zu finden glaubst, Jannis. Aber man kann nicht alles mit dem Kopf verstehen.«
Als ihr Gatte schließlich erkennt, was Despina meint, überkommt ihn eine seltene Lust, ihre Wange zu streicheln. Aber er
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