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Der letzte Grieche

Der letzte Grieche

Titel: Der letzte Grieche Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Aris Fioretos
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verabschieden würdest …« Blitzschnell presste die Tochter den Zeigefinger auf Sofias Lippen. Sie war abergläubisch genug zu glauben, dass der Geliebte – genau wie die Toten nach alter smyrniotischer Sitte – verloren ging, wenn man seinen Namen aussprach. »Aha. Dann musst du ihn eben hier beerdigen.« Sofia rückte die Schleife auf dem Busen ihrer Tochter gerade. »Du siehst doch, dass Herr Georgiadis keiner Fliege etwas zuleide tun kann? Glaub mir, wenn du ein wenig älter geworden bist, wirst du diese Seite an einem Mann zu schätzen wissen.« Sie kehrte ins Wohnzimmer zurück. »Mutter …«, zischte Despina. Vergebens.
    Einen Samstags- und einen Sonntagsbesuch später gab sie zu, dass Sofia Recht hatte. Der zukünftige Ehemann würde ihr nichts tun. Nicht einmal, wenn sie ihn darum bat. Als Sofia Lefteris kurz nach Neujahr davon in Kenntnis setzte, dass liebliche Musik entstanden war, obwohl man nichts als Dampfschiffe und Gebetsrufer gehört hatte, beschloss er folglich, seiner Gattin zu glauben und sogar ein wenig gerührt zu sein. »Er ist wie ein Bruder für mich«, erklärte er, während er die Kissen aufschlug. »Wir müssen der Vorsehung danken, dass er uns gerade jetzt besucht hat. Despina wird eine Mitgift bekommen, wie sie einer Bäckerstochter gebührt. Keiner daheim soll etwas anderes sagen können.« Jeder, der seinen Worten lauschte – seine Frau und Pavlos Vembas, der draußen in der Gasse spielte –, hörte, dass er den Tränen nahe war.
    »Dann werde ich keiner gehören«, dachte Erol Bulut, als er einige Tage später die Anzeige las, die an den geteerten Telefonmasten klebte, die zu jener Zeit in den griechischen Stadtvierteln auftauchten. »Nur dem allmächtigen Allah.« Noch am selben Abend gab er seine Stelle bei dem Tausendkünstler auf, und zwei Tage später lieferte er das Fahrrad wieder ab, auf dem er wutentbrannt verschwunden war. Wie es einem tauben Türken gelang, Muezzin zu werden, ist jedoch eine andere Geschichte, die auf einem fernen Kontinent in einem anderen, sehr komplizierten Jahrhundert spielt.
    Das letzte Halbjahr verbrachte Despina in der neu eingerichteten Wohnung über der Bäckerei, die das Paar als Mitgift bekommen hatte. Vor dem Fenster blühten und verblühten die Kirschbäume. Ein strenger armenischer Arzt hatte eine Diät aus Feigen und Ziegenmilch und ohne Fahrradfahren verordnet. Den Großteil ihrer Zeit widmete sie dementsprechend Aphrodite, Athanassia und den übrigen Freundinnen, die wissen wollten, wie man es anstellte, reich zu heiraten und ein Kind zu erwarten. Sie kochte und häkelte Strampelanzüge, die manchmal drei Ärmel, aber keine Beine hatten. Sie selbst trug eine Strickjacke und weite Leinenhosen, auch wenn ihr Gatte sie gelegentlich mit zerstreuten Händen berührte. Eines Morgens teilte er ihr mit, er habe vor, einen Verwandten in der Hauptstadt zu besuchen. Wortlos ging Despina in die Küche, wo sie sich Salz in die Augen streute. Ein Taschentuch gegen den Schmerz pressend erklärte sie, die Fürsorglichkeit ihres Mannes rühre sie. Aber wenn er den gesunden Cousin seiner kranken Ehefrau vorziehe, könne er ebenso gut in Konstantinopel bleiben. Wenn dem so sei, werde sie wieder zu ihren Eltern ziehen. Sie ertrage den Gedanken nicht, dort allein zu sein, wo er sie gelehrt habe, was es heiße, »nun ja, eine Frau« zu sein. (Laufende Nase, gerötete Tränensäcke, winzig kleine Füße, die tief zwischen den Organen traten.) Als ihr Mann diese Worte hörte, war er verunsichert, aber ehrlich gesagt auch erleichtert. »Das sagst du nur so.« Tröstend hielt er ihr den Löffel über den Tisch entgegen. »Iss etwas Joghurt. Der enthält genug Kalzium für zwei.«
    Einige Monate später gebar Despina Georgiadis nach vier Stunden Wehen, die sich anfühlten wie zehn, einen hübschen und einigermaßen wohlgeratenen Sohn. Zur Zeit der Niederkunft hielt sich ihr Gatte immer noch in der Hauptstadt auf. Seinen Cousin traf er zum Tee, kurz bevor die Scheinwerfer, mit denen man die Ahmedmoschee illuminierte, eingeschaltet wurden und ihn an den Fortschritt glauben ließen. Die restliche Zeit verbrachte er in weniger hellen Vierteln, in denen die Wasserpfeifen nicht nur Tabak enthielten und der Anteil elternloser Jungen besonders groß war. Nachdem er sein Leben in einem Dorf ohne Automobile und Elektrizität verbracht hatte, begann er, Geschmack am Stadtleben zu finden – was er, erwartungsvoll auf einem Bett ausgestreckt, während der Holzventilator

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