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Der letzte Grieche

Der letzte Grieche

Titel: Der letzte Grieche Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Aris Fioretos
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unterlässt es. Stattdessen betrachtet er sie – mit blinzelnden Augen und nicht ohne väterliche Zärtlichkeit. »Wir sind wie Mehl und Mehl, mátia mou . Hier geht nichts auf. Obwohl, ein Kebab ist immerhin herausgekommen. Glaube mir, das macht einen Griechen stolz.«
    LEKTION: GLÜCK . Unser Jannis, der immer noch in Familie Florinos’ Keller schläft, war überzeugt, dass ein Mensch nicht nur durch die Gefühle und Ereignisse beschrieben werden sollte, die er erlebt, sondern auch durch die Personen, aus denen er besteht – ganz oder teilweise, manchmal oder stets. Sonst treten Phantomschmerzen auf. (Vergleiche hierzu »Diese Jämmerliche Sache«.) Er war nicht der erste, dem dieser Gedanke gekommen war. Aber seit er seinen Vater verloren und die Großmutter ihn zu trösten versucht hatte, indem sie ihm erzählte, was vorgefallen war, als ihr eigener Vater starb, stellte er sich vor, dass ein lebendiger Mensch nicht bei Nagelrändern oder Haarspitzen aufhörte. Mal endete er bei der Ader, die sich über den zwiebelförmigen Fußknöchel eines anderen Menschen schlängelte, mal in der klebrigen Falte hinter den Ohren eines weiteren. »Sieh mal«, hatte Despina zu dem Siebenjährigen gesagt und die Kiefer aufgesperrt. »Ich dachte, der Mund wäre da, um mir zu ermöglichen, von meinem Vater Abschied zu nehmen. Aber es stellte sich heraus, dass er wie dafür geschaffen war, deinen Vater an der Hand zu halten.« Daraufhin erzählte sie, als die Hasenscharte noch ein Kind gewesen sei, habe seine ganze Faust Platz in ihrem Mund gefunden. Die Großmutter meinte, es gebe Teile von Jannis, die in ähnlicher Weise mit Personen zusammengehörten, die geboren worden waren, bevor er selbst an einem Vormittag während der Besatzungszeit um ein Haar in einer Mülltonne ertrunken wäre, aber sie bezweifelte nicht eine Sekunde, dass er auch Organe in sich trug, die ihren rechtmäßigen Besitzer erst in ein oder zwei Generationen finden würden. Vielleicht sogar noch später. »Bis dahin kümmerst du dich um sie. Wie ich meinen Mund für deinen Vater aufhob. Vergiss das nicht. Menschen bestehen aus anderen Menschen.«
    Ein Beleg muss reichen. Als Jannis im späteren Leben darüber nachdachte, was Despina gesagt hatte, reifte in ihm die Überzeugung, dass die Stellen, an denen sein Hals den Schultern begegnete, diese weichen Aushöhlungen gleich über dem Schlüsselbein, eines Tages ein anderes Wesen glücklich machen würden, weil sie wie geschaffen für dessen Gesicht waren. Sicherheitshalber probte er mit Maja. Augen, Nase, Maul – alles passte perfekt. Sogar die behaarten Wangenknochen. Das gab den Ausschlag. Die spiegelverkehrten Stellen gehörten nicht ihm, nicht wirklich, sondern jemanden, der noch nicht entstanden war, aber, wie die Ziege gezeigt hatte, kommen würde. Während unseres Besuchs in einem fernen Jahrhundert, den wir nun fortsetzen, bevor Jannis in seinem Balslöver Keller erwacht, wollen wir deshalb das Glück zu unserem Magneten ernennen. Denn trotz der Missgeschicke, die weder er noch wir leugnen können, halten wir zuerst und zu guter Letzt Ausschau nach ihm. Nach dem Glück. Genauer gesagt nach jenem besonderen Glück, das einem nur das Glück anderer schenken kann.
    Siebenundsechzig Jahre bevor unser Held auf den Rücksitz eines gebrauchten Zodiacs sank, löste sein Großvater eine einfache Zugfahrkarte nach Konstantinopel. Die Winterkleider ließ er im Schrank hängen, ansonsten hatte er fast alles dabei, so auch das französische Etui unter dem Waschbecken. Nach ein paar Tagen entdeckte er, dass die Nagelschere fehlte, aber da war es zu spät. Dies ist das letzte, was wir von dem willenlosen Herrn Talk sehen werden. Eine schlanke Silhouette in einem limettengrünen Anzug, die sich mit der Fahrkarte in der einen Hand und dem Koffer in der anderen im Menschengewimmel auf dem Bahnsteig verliert. Genau in dem Moment, als das Licht anfängt, ihn zu durchdringen, so dass er vor unseren Augen zu Pulver zerfällt, setzt jemand an zu kehren. In der Ferne verkündet ein Zeitungsverkäufer die letzten Nachrichten vom Boxeraufstand.
    Bei mindestens drei Gelegenheiten schlug Despinas Herz in den folgenden Jahren so heftig, dass sie an die Abschiedsworte ihres Ehemanns zurückdachte. Diese Augenblicke betrachtete sie als drei Lektionen in Sachen Glück. Der erste lässt sich auf einen schwülen Nachmittag im Spätsommer 1917 datieren, eine Woche nach dem Brand in Thessaloniki. In den Cafés wird diskutiert, wann

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