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Der letzte Grieche

Der letzte Grieche

Titel: Der letzte Grieche Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Aris Fioretos
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erwartet hatte – Arbeit, Misserfolge und Schmerz sowie ein vages, fast tierisches Aufblitzen von Hunger. Es war nicht viel, aber genug, um sie Mitleid mit dem Mann empfinden zu lassen. Ruhig erklärte sie, sie möge zwar ein abenteuerliches Herz haben, aber für eine alte Frau gebe es bessere Wege, für erwiesene Gastfreundschaft zu danken, als sie jüngere Freundinnen einschlagen würden. Sie tastete unter ihrem Kleid. Der Stoff roch nach Schweiß. Als sie den Mann wieder ansah, tat sie es mit festem Blick. »Das hier bedeutet mir mehr als alles andere, was ich dir schenken kann.«
    Der Kaffeehausbesitzer sah sie mit glänzenden Pupillen hinter farblosen Wimpern an. Schließlich nahm er das Geschenk an. Wo sie einmal dabei war, flüsterte Despina dann noch die wenigen Worte, die sie aus der Bibel kannte und die der Priester zitiert hatte, als er sie traute: »Wenn ich mit Menschen- und mit Engelzungen redete, und hätte der Liebe nicht, so wäre ich ein tönend Erz oder eine klingende Schelle.« Der Mann hielt die Flasche gegen das Licht, das mit dem Inhalt spielte, Flügelschlägen aus Metall ähnlich. Wortlos steckte er sie in die Brusttasche und zog anschließend die Schürze bis über die Knie hoch. Seine Augen glänzten immer noch, aber jetzt sah sie keinen Hunger mehr in ihnen.
    Von diesem Moment und bis zu Stefanopoulos’ Tod bei einem angelegten Brand, hatten die Neuankömmlinge einen Beschützer im Dorf. Er sorgte dafür, dass sie Petridis’ Nebenhaus zunächst bewohnen und später erwerben durften. Sowie den benachbarten Steinacker mit Mandelbäumen. So oft er konnte, ließ er die Hasenscharte im Kaffeehaus aushelfen und jedesmal stopfte er ihm Sonnenblumenkerne in die Tasche. Wenn er Despina im Dorf begegnete – sobald er eigene Kinder bekommen hatte, geschah dies immer seltener –, nannte er sie »unverwüstlich« und lächelte in sich gekehrt. Das Lächeln an diesem Oktobermorgen auf seinem Gesicht war von derselben Art. Stefanopoulos brach ein Stück Brot ab und erklärte, das Unwetter werde das Dorf bald erreichen. Er nickte zu den regenschweren Wolkenmassen hin. »Deine Heimatstadt mag erloschen sein«, sagte er zwischen den Bissen, »aber deine Augen werden immer brennen, unverwüstliche Smyrniotin.« Dann trat der Sohn aus der Küche. Seine Oberlippe zierte der struppige Schnurrbart, mit dem er viele Jahre später beerdigt werden sollte.
    VIELE JAHRE SPÄTER . Jannis besaß nur wenige Erinnerungen an seinen Vater. Die zweitwichtigste hatte er Doktor Florinos im Auto nach Balslöv geschildert. Nun folgt die wichtigste. Sie erklärt, warum es so wenige Erinnerungen waren.
    Eines Sonntags nach dem Bürgerkrieg hütete Jannis unterhalb des Dorfs am Fluss die Ziegen. Seit einiger Zeit mied er die Berge, weil Vater Lakis ihm gesagt hatte, es trieben sich Wölfe in der Gegend herum. Kurz vor Sonnenuntergang tauchten zehn Männer auf. Sie trugen ungepflegte Bärte, schmutzige Pelzmützen und glänzende Gürtel, die überkreuz auf der Brust lagen. Die Patronen erinnerten an die sorgsam aufgereihten Kerne in einer Melone. Die Männer waren zu Pferd und schienen jahrelang unterwegs gewesen zu sein. Sie sprachen von einem Ort näher dem Himmel als der Erde gelegen und wollten wissen, wie der Junge heiße und woher er komme. »Jannakis Georgiadis«, antwortete Jannis, der damals noch so genannt wurde. »Aus Áno Potamiá natürlich.« »Áno Potamiá?« Der Anführer spuckte aus. »Und wo liegt dieses gottvergessene Bordell, kolópedo ?« Stumm zeigte der Hirte den Berghang hinauf, zu den Wäldchen, hinter denen das Dorf kauerte.
    Jetzt lehnte sich ein anderer Mann vor. Jannis sah die gelben Zähne, über die sich der Schnurrbart vorwölbte wie eine pelzige Klippe. »Weißt du eigentlich, mit wem du es zu tun hast? Wir sind die letzten Soldaten der Demokratischen Armee. Wenn wir fort sind, schützt euch keiner mehr vor Van Fleet.« Sein knochiges Gesicht bestand vorwiegend aus Nase und Wangenknochen. Jetzt bekam Jannis wirklich Angst. Auch wenn er nur ein Kind war, hatte er doch schon einmal von dem amerikanischen General gehört, der Griechenland zu einem »Versuchslabor« im Kampf gegen die Kommunisten erklärt hatte. »Ich bin kapetán Phobos und das hier ist kapetán Deimos.« Der Mann prüfte die Klinge seines Messers. Völlig unnötig – der Junge war nicht schwer von Begriff – erläuterte er, alles Leben balanciere auf einer solchen Schneide. Dann senkte er die Stimme und fragte, erstaunlich

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